Remchingen/Stuttgart. Es ist ein herber Verlust für das Luchs-Auswilderungsprogramm im Land: Einer von nur sechs männlichen Tieren ist vor wenigen Tagen bei Remchingen (Enzkreis) auf der A 8 überfahren worden. Das Weibchen Finja, das im Dezember im Nordschwarzwald ausgesetzt worden ist, hat einen potenziellen Partner weniger.
Der Luchs mit der wissenschaftlichen Bezeichnung B 962, der keine zwei Jahre alt geworden ist, stellt ein herausgehobenes Beispiel für im Straßenverkehr umgekommene Tiere dar. Ein zweites ist der einzige Wolfswelpe im Südwesten seit 150 Jahren, der vor wenigen Wochen auf der B 500 bei Schluchsee von einem Auto erfasst worden ist.
Darüber hinaus aber ereignen sich jedes Jahr bundesweit bis zu 300 000 Wildunfälle. Und in die Statistik gehen nur Rehe, Wildschweine und andere Tiere des Jagdrechts ein - die vielen Igel, Frösche und Mäusebussarde zählt niemand.
Von dem Leid der Tiere und den Folgen für das Artensterben einmal ganz abgesehen, haben die Wildunfälle erhebliche Auswirkungen auf den Menschen: Jährlich werden in Deutschland mehrere Menschen getötet, 2022 wurden 2615 Personen verletzt. Die Schäden an den Autos sind laut dem Gesamtverband der Versicherer seit 2012 um weit mehr als die Hälfte auf 950 Millionen Euro im Jahr 2022 gestiegen.
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Die Frage stellt sich also schon: Wird genügend getan, um den Tieren das gefahrlose Überqueren der Straßen zu ermöglichen? Die Autoren einer brandaktuellen Studie der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt (FVA) in Freiburg, die dem Forstministerium untergeordnet ist, haben dazu eine eindeutige Meinung: „Es kann in Bezug auf die Verkehrsinfrastruktur gesagt werden, dass sich, entgegen der gesetzten Landesziele seit 2010, die Überwindbarkeit von stark befahrenen Straßen und Schienen für wandernde Wildtiere nicht wesentlich verbessert hat.“ Auf Nachfrage wollte sich die FVA jetzt aber nicht äußern und verwies auf das Forstministerium.
Tatsächlich wurde schon 2010 ein Generalwildwegeplan erarbeitet. Zudem brachte der Bund 2012 ein Programm zur Wiedervernetzung vor allem an Autobahnen auf den Weg, das Land hat ein Konzept für die weiteren Straßen aufgestellt. In Letzterem stehen 125 vordringliche Projekte. Doch trotz vieler Bemühungen sieht es nicht allzu gut aus. Von den 14 Querungshilfen, die das Bundesprogramm vorsieht, ist bisher nur eine fertiggestellt – sie steht bei Merklingen an der A 8. Insgesamt existieren laut dem Verkehrsministerium derzeit 32 größere Überführungen im Land, vier davon seien aktuell noch im Bau, so Wenke Böhm vom Ministerium.
Der Generalwildwegeplan zeigt auf, in welchen Korridoren sich Tiere gefahrlos in andere Gebiete begeben können. Oft liegen die Korridore entlang von Flusstälern. Diese nationalen und internationalen Wildwege seien wichtig, um einen genetischen Austausch zu ermöglichen, betont Alexandra Ickes vom Nabu-Landesverband. Auch der umgekommene Luchs hätte davon profitieren können: „Besonders ärgerlich ist, dass es ganz in der Nähe des Unfallorts eine Brücke gibt, die man in eine Grünbrücke hätte umgestalten können.“ Der Unfall hätte womöglich verhindert werden können, so die Nabu-Mitarbeiterin.
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Aber auch bei den Wildwegen gibt es Probleme. Immer häufiger wird in die 1000 Meter breiten Korridore hineingebaut. Laut der Studie der FVA hat sich die Anzahl der Engstellen seit 2010 von 31 auf 92 verdreifacht im Südwesten. Martin Bachhofer, der Landesgeschäftsführer des BUND, fordert sogar, dass es keine neuen Straßen mehr geben dürfe. Zudem müsse die Vernetzung von Lebensräumen in allen Planungen zum Standard werden. Das sei bisher nur bei Straßen in den Wildkorridoren der Fall, räumt Sebastian Schreiber vom Landwirtschaftsministerium in Stuttgart ein, bei Gebäuden nicht. Bachhofer wettert deshalb: „Es geht viel zu schleppend voran.“
Die Landesregierung verweist darauf, dass die Planungen aufwendig seien. Es reiche nicht aus, die Brücke zu bauen. Vielmehr müssten im Hinterland Grundstücke angekauft werden, um für die Tiere Biotop-Trittsteine zu schaffen. Oft müssten Wege verlegt werden. Und es brauche links und rechts der Brücke einen langen Zaun, der die größeren Tiere zum richtigen Ort leite. Mittlerweile, betont Schreiber, sei man dazu übergegangen, Grünbrücken zu bauen, die vom Menschen nicht genutzt werden können. Nur diese würden sicher von den Tieren – vom Luchs bis hin zu Laufkäfern – angenommen.
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