Stuttgart. Sie sitzen zum Teil seit 18 Monaten allein in kleinen Zimmern vor dem Computer, manche in Städten fern der Heimat, in denen sie niemanden kennen. Sie klicken stundenlang Online-Vorlesungen und Skripte an, deren Stoff sie nacharbeiten müssen, ohne in eine Bibliothek zu können oder jemanden fragen zu können. Hörsäle und Mensen sind geschlossen, Wechselunterricht wie an den Schulen gibt es nicht. Sie kennen weder Kommilitonen noch Tutoren oder Professoren persönlich. Übungen, Praxis- und Auslandssemester finden nicht statt, Zukunftsplanungen und Studienpläne zerplatzen. Und es gibt weder konkrete Öffnungsperspektiven noch die Aussicht auf baldige Impftermine.
Die jungen Menschen haben ihre oft existenziellen Nebenjobs, überwiegend in der Gastronomie, im Veranstaltungs- und Eventbereich, verloren und geraten in finanzielle Nöte. Viele sind vereinsamt und überfordert mit der Situation, aber sind solidarisch und tragen die Corona-Maßnahmen klaglos mit. Während für Schüler über Lernbrücken, Nachhilfe und Sommerkurse diskutiert wird, sind Studierende die größten Bildungsverlierer in der Pandemie. Und sie haben keine Lobby.
„Wir sind komplett durch den Rost gefallen beim Corona-Management. Wir wurden nicht vergessen, sondern ignoriert“, sagt Andreas Bauer, Master-Student der Informationstechnik an der Hochschule Mannheim und einer der Sprecher der Landesstudierendenvertretung Baden-Württemberg, das hochschulpolitische Sprachrohr für rund 364 000 Studierende an den Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten des Landes. Es gab zwar Gespräche mit der Politik, einen runden Tisch, den Studi-Gipfel im Mai, bei dem Betroffene Ministeriumsvertretern und Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) ihre Nöte schilderten. „Auf der Sachebene war Verständnis da“, sagt Bauer. Konkret gebracht habe der Gipfel aber bislang nichts. „Und die Rektoren planen jetzt bereits das vierte Online-Semester.“
Bauer sagt, viele Studierende hätte großes Verständnis für den Lockdown. „Aber sie haben nur mäßig Verständnis dafür, dass jetzt Tausende von Fußballfans in Stadien dürfen, aber Seminare mit 15 Teilnehmern nicht möglich sein sollen.“
60 Prozent weniger zufrieden
Vor wenigen Tagen hat die LandesAsten-Konferenz ein Eckpunktepapier vorgestellt, in dem Öffnungsperspektiven, Impfungen und vor allem schnelle Hilfe gegen die psychosozialen Folgen gefordert werden, unter denen viele Studierenden leiden. Einer im Auftrag der Techniker-Krankenkasse im April durchgeführten Forsa-Umfrage zufolge geben 60 Prozent der befragten Studierenden an, Probleme zu haben. Vor allem die Lebenszufriedenheit ist während des Lockdowns signifikant gesunken, die Anfälligkeit für Depressionen hoch. Weil sie den Druck und die Isolation nicht mehr aushalten, suchen immer mehr junge Menschen Hilfe bei den psychosozialen Beratungsstellen der Studierendenwerke – aber auf Termine muss zum Teil lange gewartet werden. Die Nachfrage ist groß, die Psychotherapeuten, vorwiegend aus den Mitteln der Studentenwerke bezahlt, waren auch schon vor Corona zu wenig.
Einzelne Hochschulen haben sich auf den Weg gemacht, um ihren Studierenden Unterstützung anzubieten – sei es morgendliche Motivation am Bildschirm, ein gemeinsames Isolations-Bingo oder Initiativen, um Studierenden Impftermine zu organisieren, wie etwa das KIT in Karlsruhe derzeit vorbereitet oder sie auch die Universität Mannheim anbieten will. Doch das bleibt der Eigeninitiative der Hochschulen überlassen – einen Masterplan gibt es nicht. Immerhin erlaubt die Corona-Lage mittlerweile, dass Studierende ihren Protest auf die Straße tragen. „Studieren statt stagnieren“ heißt eine Initiative, die studentische Interessen vernetzt.
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