Maßregelvollzug - Die Zäune in Weinsberg sind nicht für alle Insassen hoch genug / Es werden oft die Falschen eingewiesen

Psychiatrie massiv in der Kritik

Von 
Christian Gottschalk
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Ein Zaun umschließt das Klinikum am Weissenhof-Zentrum für Psychiatrie. © dpa/Julian Buchner

Weinsberg. Innerhalb von weniger als einem Monat hat es in der Psychiatrie Weinsberg zwei Ausbrüche gegeben. Insgesamt sind fünf zum Teil als gefährlich eingestufte Insassen verschwunden. Die beiden Fälle unterscheiden sich allerdings deutlich voneinander. In der Landespolitik entbrennt ein heftiger Streit.

Wie kam es zum letzten Ausbruch?

Streng genommen ist der Patient, der das Klinikum im Kreis Heilbronn am Samstag verlassen hatte, nicht ausgebrochen. Er ist einfach nicht von einem erlaubten Ausgang im Bereich des Klinikgeländes in sein Zimmer zurückgekehrt. Fachleute reden daher von einer „Entweichung“. Landesweit gab es davon in diesem Jahr bereits 46 – bei insgesamt 1252 Patienten. Der Mann wird als nicht besonders gefährlich für die Allgemeinheit eingeschätzt.

Wer ist zuvor ausgebrochen?

Am 22. September flüchteten vier Männer aus der geschlossenen Anstalt, filmreif, mit Bettlaken aus einem aufgehebelten Fenster. Es handelt sich überwiegend um schwer kriminelle und drogenabhängige Täter, die verurteilt worden sind und nun zu einer Therapie in der Klinik waren. Bei drei von ihnen stand die Therapie kurz vor dem Abbruch, drei sind noch auf der Flucht.

Was bedeutet Maßregelvollzug?

Die im Maßregelvollzug untergebrachten Straftäter sind suchtkranke oder psychisch kranke Patienten. Obwohl auch Einrichtungen des Maßregelvollzugs gesichert sind, steht die Therapie im Vordergrund, nicht die Sicherung. Ähnlich wie im Strafvollzug gibt es verschiedene Lockerungsschritte, wenn die Behandlung Erfolge zeitigt. „Das Milieu innerhalb der Stationen entspricht eher der eines Krankenhauses und weniger eines Zellentraktes“, so ein Sprecher der Kliniken in Weinsberg.

Wer wird eingewiesen?

Nach Ansicht von Udo Frank, oft die Falschen. Der Sprecher der Facharbeitsgruppe Maßregelvollzug der Kliniken für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie in Baden-Württemberg, nennt ein Beispiel. „Hat ein Gericht neben der Haft die Unterbringung im Maßregelvollzug angeordnet, können Verurteilte theoretisch schon nach der Hälfte der Haftzeit frei kommen.“ Für alle anderen Häftlinge besteht diese Chance erst nach zwei Dritteln der Zeit. Straftäter drängen so in den Maßregelvollzug, obwohl es bei ihnen von vornherein kaum Aussicht auf eine erfolgreiche Therapie gibt“, sagt Frank unserer Zeitung. „Dieses Privileg muss abgeschafft werden.“

Gehören Drogen und Gewalt zusammen?

In Deutschland geschehen jedes zweite Körperverletzungsdelikt und etwa jedes vierte Sexualdelikt unter Alkohol- oder Drogeneinfluss. Paragraf 64 des Strafgesetzbuchs regelt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für Straftäter in Folge eines „Hangs zur Einnahme berauschender Substanzen im Übermaß“. Sowohl der nun entwichene Patient als auch mehrere der im September geflohenen waren aufgrund dieser Regelung in Weinsberg.

Gibt es genügend Plätze?

Seit 2017 hat das Sozialministerium die Plätze im Maßregelvollzug um rund 20 Prozent erhöht – von 1049 auf 1273. Bis Jahresende sind weitere 75 Plätze geplant, bis Ende 2023 noch einmal 100. Die Zahl der Einweisungen steigt schneller.

Was sagt die Politik zu dem brisanten Thema?

Die SPD im Landtag spricht vom „Tag der offenen Tür“ in Weinsberg. Der erneute Vorfall trage nicht zum Sicherheitsgefühl der Menschen bei und unterstreiche die Notwendigkeit, die Vorkehrungen in diesen Einrichtungen zu prüfen, so der Strafvollzugsexperte Jonas Weber. Sozialminister Manfred Lucha reagiert gereizt: „Die SPD sollte dringend damit aufhören, aus Oppositionsreflexen heraus und wider besseres Wissen die Bevölkerung zu verunsichern.“ Die beiden Vorfälle seien nicht vergleichbar.

Ist Gefängnis denn besser?

Experten fordern, Therapieplätze nicht mit Patienten zu belegen, bei denen kaum Aussicht auf Besserung besteht. Straftäter gehörten ins Gefängnis. Justizvollzugsbeamte klagen jedoch darüber, dass viele Insassen in den Haftanstalten fehl am Platze sind – und eine Therapie bräuchten.

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