Weinsberg. Im Klinikum am Weissenhof bei Weinsberg stehen an diesem Tag Schweinelendchen mit Spätzle auf dem Speiseplan. In Warmhalteboxen wird das Essen in die Stationen geliefert. Doch in Haus 11 steht ein vegetarischer Gemüsenudelauflauf im Ofen, zubereitet von den fünf Männern der Selbstverpflegungsgruppe. „Wir achten schon auf eine ausgewogene Ernährung“, sagt Micha. Der 49-Jährige, durchdringende Augen, bullige Statur, grüne Gärtnerlatzhose, ist Patientensprecher auf der forensischen Station und ein klein wenig stolz darauf, dass in den sechs Wochen, seitdem sie sich selbst bekochen, immer etwas anderes auf den Tisch gekommen ist.
Wer am Weissenhof selbst kochen darf, hat viel geschafft - nicht nur, weil er dann „echte Männerportionen“ auf seinem Teller vorfindet, wie Micha anmerkt. Er ist auch auf dem Weg zu einem straf- und drogenfreien Leben weit gekommen, darf in Absprache erste eigene Wege gehen. Denn darum geht es im Maßregelvollzug des Weinsberger Klinikums. Gewiss, jeder zweite Straftäter, der vom Gericht wegen Suchtproblemen eingewiesen werde, breche die Therapie ab, räumt der Ärztliche Direktor, Matthias Michel, ein. Das sei die langjährige Erfahrung. Das heiße aber auch, dass es jeder Zweite schaffen könne, betont der Mediziner.
Doch nun steht die Klinik und mit ihr der gesamte Maßregelvollzug im Land wegen eines besonders spektakulären Therapieabbruchs in der Kritik. Vor drei Wochen waren vier Männer aus der geschlossenen Abteilung in Weinsberg ausgebrochen. Und dann entwich später auch noch ein 40-jähriger Mann aus dem offenen Bereich, der noch immer auf der Flucht ist. Der zuständige Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) musste sich im Landtag kritischen Fragen stellen. Auch die Lokalzeitung schlug Alarm. Wird in der Klinik zu wenig auf die Sicherheit der Bevölkerung geachtet?
Direkt aus dem Strafvollzug
Rund 200 Meter von Haus 11 entfernt steht Matthias Michel vor einem fünf Meter hohen Zaun. Hier beginnt die geschlossene Abteilung, und Michel möchte in Anbetracht der jüngsten Aufregung die Chance nutzen, ein wenig über die Arbeit seiner Abteilung aufzuklären. Klar, eine Psychiatrische Klinik sei kein Gefängnis, sagt der Ärztliche Direktor. Aber eigentlich könne da keiner raus. Dann blickt er die Fassade hinauf, wo eine große Metallplatte den Ort markiert, wo es den vier Ausbrechern vor drei Wochen trotzdem gelungen ist. Das Fenster, das einer Panzerfaust standhalten sollte, drückten sie mit dem Rahmen aus der Verankerung und kletterten an zusammengebundenen Laken ins Freie.
Für jeden Straftäter, der von einem Gericht eingewiesen wird, ist die geschlossene Abteilung die erste Station. Rund ein halbes Jahr bleibe man dort, sagt Matthias Michel. Die meisten kämen direkt aus dem Strafvollzug und müssten sich erst einmal an das „therapeutische Setting“ gewöhnen, wie es der Chefarzt nennt. Umgekehrt wolle man auch die Patienten „genau kennenlernen“. Am Ende stehe ein gemeinsamer Therapieplan. Es geht um Gruppensitzungen, Therapiestunden, die Übernahme von Aufgaben und Arbeitstherapie. Und es gehe auch immer um die schrittweise Gewährung von Freiheiten und den Umzug in weniger gesicherte Bereiche. Solche Lockerungen seien ein entscheidender Teil der Therapie - vorausgesetzt, das Drogenscreening sei nicht auffällig.
Doch immer öfter werde die Therapie abgebrochen, bevor sie überhaupt beginne, klagt Matthias Michel. So war das auch im Fall der Ausbrecher. Bei drei von ihnen sei die Überweisung zurück ins Gefängnis schon veranlasst gewesen. „Wir bekommen immer mehr voll schuldfähige Täter, bei denen die Drogensucht kaum eine Rolle spielt“, sagt der Ärztliche Direktor. „Die Frage ist doch: Liegt bei einem Drogendealer, der sich mit dem Handel einen luxuriösen Lebensstil ermöglicht und der nur ab und zu ein Näschen Kokain zieht, überhaupt eine Suchterkrankung vor?“
Schuld an der Lage und dem sprunghaften Anstieg der Einweisungen seien weniger die hiesigen Gerichte als der Bundesgerichtshof, der Urteile im Zweifel kassiere. So kämen massenhaft therapieunwillige Patienten in die Kliniken, die den Maßregelvollzug für den leichtesten Weg in die Freiheit hielten. „Aber das ist er nicht“, sagt Michel, auch wenn man nach einem halben Jahr zum ersten beaufsichtigten Parkspaziergang aufbrechen dürfe. „Therapie ist anstrengend. Da wird man nicht in Ruhe gelassen.“
Das ganze „Kopfgeficke“ halte ich nicht aus, heiße es dann. Doch solche Patienten veränderten das ganze Milieu in der Klinik. „Die Gruppendynamik ist eine völlig andere.“ Die Mitarbeiter würden als Schließer angesehen. Es herrsche großes Misstrauen, und es bildeten sich klare Hierarchien aus. Es werde immer mehr wie in einem richtigen Gefängnis. „Es gibt Alphatiere, die zwar für Hausdienste eingeteilt sind, bei denen aber klar ist: Kloputzen oder Küchendienst werden delegiert.“
In Haus 11 gibt es dieses Problem nicht. Sieben Paar Schuhe, Stiefel, Badelatschen reihen sich feinsäuberlich vor Michas Zimmertür. Drinnen auf einem Regal liegen Bücher aus der Anstaltsbibliothek. „Wir haben es sauber und gemütlich hier“, sagt Micha. Seine Putzarbeiten laut Plan hat er schon erledigt. Gleich geht es zum Arbeiten in die Gärtnerei. Der Ausbruch, sagt Micha, sei ein Riesenthema - auch unter den Patienten. „Das wirft schließlich ein schlechtes Bild auf uns alle.“ Seit Kurzem darf er einmal die Woche zum Training des örtlichen Fußballvereins. Dafür hat er eine Ausgangsverlängerung bis 21.45 Uhr erhalten. Er sei gut aufgenommen worden. „Eigentlich wollte ich schon offen machen, wo ich herkomme. Aber das habe ich jetzt zurückgestellt.“
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