Der Pazifismus und die Friedensbewegung gehören zu den großen politischen Strömungen, aus denen sich die grüne Partei speist. Winfried Hermann, baden-württembergischer Verkehrsminister und Teil dieser Strömung, stellt sich im Interview gegen weitere deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine.
Herr Hermann, Sie sind bekennender Pazifist. Was bedeutet das für Sie in diesen Tagen?
Winfried Hermann: Ich wurde in den 1970er Jahren der militärischen und atomaren Aufrüstung politisch sozialisiert. Damals musste ich mich entscheiden, ob ich zur Bundeswehr gehe oder den Kriegsdienst mit der Waffe verweigere. Nach intensiver Beschäftigung mit dem Thema habe ich mich entschieden, niemals mit der Waffe in den Krieg zu ziehen und dabei in Zwangssituationen zu kommen: der
- Winfried Hermann (70), gebürtig aus Rottenburg am Neckar, einst Wehrdienstweigerer und Gymnasiallehrer, zog 1984 erstmals für die Grünen in den Landtag ein.
- Zeitweise war er deren Landeschef, von 1998 bis 2011 saß er im Bundestag.
- Der zum linkne Flügel der Grünen zählende Hermann ist seit 2011 Verkehrsminister in Stuttgart.
oder ich. Ich will keinen anderen Menschen töten. Jeder Krieg aber bedeutet Tod und Zerstörung.
Inzwischen sind Sie Politiker– und es geht um mehr als eine individuelle Lebensentscheidung.
Hermann: Deshalb sage ich: Krieg mit seiner unvermeidlichen Brutalität ist schon lange nicht mehr angemessen für Zivilisationen im 21. Jahrhundert. Wir sollten in der Lage sein, friedliche Formen des Zusammenlebens und einer zivilen Sicherheitsarchitektur zu finden. Als Pazifist wende ich mich immer gegen Militär- und Kriegslogiken und trete ein für friedliche Konfliktlösungen.
Hat der russische Angriff auf die Ukraine Ihre Überzeugungen nicht erschüttert?
Hermann: Natürlich erschüttert mich dieser schreckliche Krieg. Aber Politik muss alles tun, damit wir nicht in Situationen wie jetzt kommen. Pazifismus ist Kriegsprävention. Wenn der Krieg erst einmal ausgebrochen ist, hat die Politik versagt. Das gilt auch im Verhältnis zu Russland: die Nato, die USA und Russland haben die Chance nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts verspielt, eine neue Friedensordnung aufzubauen. Russland hat in den Folgejahren unter anderem in Tschetschenien und Georgien Krieg geführt, die USA und Verbündete haben ebenfalls völkerrechtswidrig Kriege aus imperialen Interessen geführt – zum Beispiel im Irak und in Afghanistan. Die Nato und die USA setzten auf Stärke und Expansion des Einflussbereichs.
Rechtfertigt das Putins Angriff auf die Ukraine?
Hermann: Natürlich nicht. Sein Handeln ist durch nichts zu rechtfertigen. Aber es ist schon so, dass man in Russland das Agieren der USA und der Nato als Bedrohung begreifen kann. Dennoch ist das noch lange kein Grund, einen Angriffskrieg zu führen.
Ist Frieden für Sie wichtiger als Freiheit?
Hermann: Das ist eine falsche Alternative. Frieden ohne Freiheit ist kein Frieden. Und wenn man tot ist, hat man auch nichts von der Freiheit, die man angestrebt hat.
Machen also die Menschen in der Ukraine, die ihre Freiheit verteidigen, einen Fehler?
Hermann: Selbstverständlich verstehe und akzeptiere ich, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer sich verteidigen. Auch wenn ich persönlich nicht zur Waffe greifen würde. Damit das hier aber keinen falschen Zungenschlag bekommt, will ich eines klarstellen: Russlands Krieg gegen die Ukraine ist völkerrechtswidrig und widerlich. Die Ukraine hat natürlich das Recht, sich zu verteidigen und durch Waffenlieferungen aus dem Ausland unterstützt zu werden. Wir sind aber heute an einem Punkt des Konflikts angekommen, an dem wir uns fragen müssen, ob immer mehr Waffenlieferungen den Krieg nicht eskalieren und verlängern statt zu beenden. Und das ist mein zentraler Kritikpunkt: Wir sind aktuell zu sehr verfangen in einer Militär- und Kriegslogik ohne Ausstiegs- und Friedensstrategie.
Wie könnte denn ein Wechsel in eine Friedenslogik aussehen?
Hermann: Wenn man davon ausgeht, dass Putin nur ein ruchloser, hinterlistiger Diktator ist, wie kann man dann gleichzeitig denken, er ließe sich durch mehr Waffen an die Ukraine aufhalten. Russland ist militärisch so potent, es kann immer noch einen draufsetzen. Wenn wir eine weitere Eskalation verhindern wollen, müssen jetzt erhöhter ökonomischer Druck auf Russland und zugleich diplomatische Initiativen kommen. Da sehe ich deutlich zu wenige Ideen und Anstrengungen. Statt über Waffenlieferungen zu diskutieren, braucht es Vorschläge zur Deeskalation und Entschärfung des Konflikts.
Wer sollte dabei vorangehen?
Hermann: Ich erwarte von den Vereinten Nationen ein viel größeres Engagement – auch von großen, neutralen Staaten wie China oder Indien. Sie alle sollten doch ein überragendes Interesse haben an einem schnellen Ende dieses Krieges. Es ließe sich auch der ökonomische Druck auf Russland weiter steigern. Wenn Putin kein Geld und keine Technologie mehr bekommt, dann wird seine Herrschaft instabil.
Sie wollen einen knallharten Öl- und Gasboykott?
Hermann: Ich sehe natürlich, wie schwer uns das fiele. Hier ist in der Vergangenheit so viel verbockt worden, dass man jetzt als Pazifist auch nicht einfach eine wunderbare Lösung präsentieren kann. Niemals – um nur ein Beispiel zu sagen– hätten wir uns in eine solche Gasabhängigkeit von Russland begeben dürfen, die uns jetzt so erpressbar macht.
Mit Ihrer pazifistischen Haltung – leiden Sie da nicht an Ihrer eigenen Partei, die in der Mehrheit eine ganz andere Haltung hat?
Hermann: Nein, ich leide nicht an meinen Grünen. Robert Habeck und Annalena Baerbock machen in der Bundesregierung eine großartige, verantwortungsvolle Politik. Es gibt hier das eine thematische Feld, wo ich anders denke als sie.
Sie haben in der Waffenfrage eine fundamental andere Haltung als Winfried Kretschmann. Belastet das Ihr Verhältnis?
Hermann: Wir haben da konträre Positionen, aber wir reden nicht groß darüber. Wir sind Landespolitiker und haben genug Anderes zu tun. Wir wissen, dass wir gegensätzliche Meinungen in dem Punkt haben und respektieren, dass auch der Andere redliche Argumente hat. Die „tageszeitung“ hat mich mit den Worten zitiert, dass ich als Pazifist ins Grab gehen werde. Das respektiert Kretschmann als andere Überzeugung und Haltung. Ich debattiere mit ihm auch nicht über Glaubensfragen oder den Katholizismus – wo ich auch eine andere Vorstellung habe. Ich hatte schon vor Jahrzehnten angesichts der Kriege eine antimilitaristische und pazifistische Haltung, die damals noch eine Mehrheitsposition in der Partei war. Ich bin dabei geblieben.
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