Radikalenerlass

Der Ministerpräsident schweigt - SPD wirft Kretschmann Verschleppungstaktik vor

Vor sechs Monaten hat die Uni Heidelberg eine Studie über die Berufsverbote vor 50 Jahren veröffentlicht. Der Ministerpräsident schweigt. Dabei durfte er damals selber nicht als Lehrer im Staatsdienst arbeiten

Von 
Walter Serif
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Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) lässt sich viel Zeit für eine Stellungnahme zur umfassenden Radikalenerlass-Studie der Universität Heidelberg. Die SPD-Opposition wirft ihm eine „Hinhaltetaktik“ vor. © dpa

Mannheim. Der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum und sein Team waren fürwahr fleißig: 684 Seiten umfasst ihr Werk mit dem Titel „Verfassungsfeinde im Land? Der ,Radikalenerlass’ von 1972“. Vor allem bei den älteren Menschen dürften da böse Erinnerungen wach werden. „Kaum ein anderes Ereignis der jüngeren Zeitgeschichte hat so tiefe Spuren in der bundesrepublikanischen Gesellschaft hinterlassen, wie der ,Radikalenerlass’“, heißt es in der Studie. Im Südwesten durchleuchteten die Behörden besonders rigide die Bewerber für den öffentlichen Dienst auf deren Verfassungstreue und verweigerten ihnen je nach Ergebnis die Beschäftigung.

Weirauch fordert Entschuldigung

„Für viele Betroffene ist der Radikalenerlass nach wie vor mit persönlichem Leid und Nachteilen verbunden“, sagt der Mannheimer Landtagsabgeordnete Boris Weirauch (SPD). Er fordert, dass Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) „endlich Farbe bekennt“. „Endlich“ deshalb, weil Wolfrum & Co. ihre Forschungsarbeit bereits im Mai 2022 abgeliefert haben, die Landesregierung aber bisher eine Stellungnahme verweigert.

Die Studie war von der inzwischen zurückgetretenen Wissenschaftsministerin Theresa Bauer (Grüne) 2018 angeregt worden. Sie fragte Wolfrum, ob die Geschichte des Radikalenerlasses nach all den Jahren nicht mal aufgearbeitet werden sollte. Er hatte dazu Lust – nach dem üblichen Prüfverfahren wurden die Forschungsgelder bewilligt.

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Interessant ist, dass Kretschmann – als früherer Maoist war er selbst vom Radikalenerlass betroffen – bereits 2014 „eine wissenschaftliche Aufarbeitung auch aus der Sicht der Landesverwaltung für wünschenswert“ erachtet hatte. Jetzt ist die von ihm geforderte Untersuchung schon ein halbes Jahr alt, aber Kretschmann schweigt, obwohl die Studie, wie die stellvertretende Regierungssprecherin Caroline Blarr einräumt, „bereits jetzt zu einer breiteren politischen Diskussion und Aufarbeitung des Themas beigetragen“ hat. Blarr begründet Kretschmanns Schweigen damit, dass die Auswertung der Studie noch nicht erfolgt sei. Danach sei aber eine „zeitnahe Stellungnahme zu erwarten“.

Die Sprecherin verweist auch darauf, dass der Ministerpräsident ja um „Verständnis“ dafür gegeben habe, dass es in der aktuellen Lage „Fragen von akuter Dringlichkeit“ gebe, die diesem Thema „vorgelagert“ seien. Das wiederum geht Weirauch ziemlich gegen den Strich: „Dass der Ministerpräsident in einer Landespressekonferenz im Oktober sagt, er habe ,echt wichtigere Dinge zu tun’, als sich mit der Studie zu befassen, lässt jeglichen Anstand gegenüber den Betroffenen vermissen“, attackiert er Kretschmann.

Der SPD-Rechtsexperte erinnert angesichts der „Hinhaltetaktik der Landesregierung“ und der „abwehrenden Haltung Kretschmanns“ daran, dass bei vielen Opfern des Radikalenerlasses inzwischen die biologische Uhr tickt. „Die Landesregierung spielt auf Zeit. Zeit, die diesen Menschen aufgrund ihres oftmals fortgeschrittenen Alters leider nicht unbegrenzt zur Verfügung steht.“

Historiker Wolfrum kennt als Wissenschaftler natürlich das Geschäft und hält sich mit Kritik zurück: „Wir haben gründlich gearbeitet – alles, was jetzt daraus politisch folgt oder nicht, entzieht sich unserer Einflussnahme.“ Hat wenigstens jemand aus der Landesregierung angerufen und vielleicht nachgehakt? „Nein, bei mir hat sich niemand aus Stuttgart gemeldet. Meine Mitarbeiterinnen sind allesamt seit Frühjahr nicht mehr an der Universität, die Fördermittel sind ausgelaufen“, erweckt Wolfrum den Eindruck, als hätte er mit dem Kapitel bereits abgeschlossen.

Das ist bei Weirauch natürlich anders. Als Oppositionspolitiker muss er die Sache am Köcheln halten. Weirauch regt sich nicht nur über die „Verschleppungstaktik der Landesregierung“ auf, sondern fordert auch eine Entschuldigung bei den Betroffenen und eine angemessene Entschädigung durch das Land.

Vor diesem Hintergrund ist ein SWR-Interview vom Januar 2022 besonders aufschlussreich. Kretschmann benannte erstmals das Unrecht, das der Staat diesen Menschen angetan hat. Und er schloss auch eine Entschuldigung nicht mehr aus. Allerdings keine kollektive, denn es habe ja Fälle gegeben, „die waren berechtigt, andere nicht“. Deshalb müsse man „prüfen, ob jemand Unrecht geschehen ist oder nicht. Und man muss sich dann bei den Menschen konkret entschuldigen“, sagte Kretschmann.

Dass er den Radikalenerlass auch aus persönlichen Gründen für einen Fehler hält, liegt auf der Hand. Kretschmann selbst musste ja – weil er den Prüfern zu rot war – vorübergehend als Lehrer in einer privaten Kosmetikschule arbeiten, bis er schließlich doch noch in den Staatsdienst übernommen wurde.

Reinigungskraft im Verdacht

Der Radikalenerlass führte bundesweit zur Überprüfung von 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerbern für den Öffentlichen Dienst. Besonders krass war es aber im Südwesten. Baden-Württemberg war die „Speerspitze“ (Wolfrum). Und: „Man kann durchaus konstatieren, dass der ,Radikalenerlass’ auf dem ,rechten Auge’ zwar nicht gänzlich blind, aber doch seheingeschränkt war“, schreibt der Historiker. Für die Regierung um den stramm konservativen CDU-Ministerpräsidenten Hans Filbinger stand der Feind klar links. Filbinger gehörte zu jenen „furchtbaren Juristen“ (Rolf Hochhuth), die während des Nazi-Regimes Todesurteile fällten und diese dann angeblich vergessen hatten. 1978 musste er zurücktreten.

Die Forschungsergebnisse belegen, dass die – so Wolfrum – „verfassungsschutzmäßige Überprüfung tatsächlich sowohl sehr weite wie auch diverse Personenkreise einbezogen hat“. Neben wissenschaftlichen Hilfskräften wurden demnach sogar Reinigungskräfte durchleuchtet – an der Universität Mannheim traf das auf eine Spanierin zu.

Bis zum Aus des Radikalenerlasses im Südwesten zum Jahreswechsel 1990/1991 gab es rund 695 000 Anfragen beim Verfassungsschutz, daraus ergaben sich rund 1900 sogenannte Erkenntnisfälle. Mit einem Berufsverbot belegt wurden „nur“ rund 200 Personen. Eine vergleichsweise geringe Zahl, wie Wolfrum meint. Aber: „Für die Betroffenen war es ein tiefer Einschnitt.“ Sie haben es verdient, dass die Landesregierung endlich in die Puschen kommt und reagiert. Schweigen ist nicht immer Gold.

Redaktion Reporter für Politik und Wirtschaft

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