Viernheim. „Wir sind alle Menschen!“ Den Satz sagt Concetta Bongiorno immer wieder. Sie ist auf Sizilien zur Welt gekommen. Sie und ihr Mann wollten eigentlich „nur ein Jahr“ in Deutschland bleiben. Inzwischen ist die 86 Jahre alte Seniorin Viernheimerin durch und durch. Sie gehört zum Kernteam des Internationalen Frauen-Cafés und zeigt ehrenamtlich Frauen jeder Nationalität die Kunst des Nähens. „Ich mache das gerne. Nur dann kann man das machen,“ sagt sie.
Concetta Bongiorno stammt aus dem Dorf Cerami auf Sizilien. 1938 kam sie dort zur Welt, nur drei Monate später starb ihr Vater: „Mein Vater kannte mich, aber ich kannte meinen Vater nicht. Ich kann mich nicht an ihn erinnern.“ Ihre Mutter blieb mit dem Kind allein zurück. Bongiorno erzählt: „Mein Vater war krank gewesen. Meine Mutter hatte Schulden gemacht, um die Medikamente zu bezahlen.“ Erst nach sechs Jahren erhielt Concettas Mutter die Witwenrente. Sie hob das gesamte Geld beimPostamt ab und ging zur Apotheke, um ihre Schulden zu bezahlen. „Es waren gute Menschen, sie nahmen den Betrag, ohne Zinsen. Das habe ich nie vergessen.“
Als Concetta neun Jahre alt war, heiratete ihre Mutter erneut. Concetta bekam noch drei Schwestern und einen Bruder. Die Mutter versprach ihren Kindern: „Jedes Kind erhält eine gute Ausbildung.“ Concetta erlernte den Beruf der Schneiderin. „Ich habe Freude an diesem Beruf“, sagt sie.
Verlobter geht nach Deutschland, um als Maurer zu arbeiten
1959 verlobte sie sich mit ihrem Mann Gerrado. Im folgenden Jahr ging ihr Mann nach Deutschland, um Geld zu verdienen. Erst 1962 heiratete das Paar, bald kam Sohn Mario zur Welt. Concettas Mann ging erneut nach Deutschland und arbeitete als Maurer auf Baustellen. Concetta erinnert sich: „Das Leben war nicht einfach. Ich war alleine mit unserem Sohn in Italien, und mein Mann lebte im Ausland mit vier Personen in einem Zimmer.“
Als ihr Mann nach einem Italien-Aufenthalt erneut nach Deutschland gehen wollte, hatte Concetta beschlossen: „Ich komme mit.“ Erst war ihr Mann dagegen, doch sie ließ sich nicht beirren. Nach einer Zugfahrt von 2000 Kilometer kam die Familie mit dem 18 Monate alten Kleinkind bei ihrem Schwager in Mannheim an. Kurz darauf fand die Familie ihre erste Wohnung in Viernheim: ein Zimmer unter dem Dach, eine Kochzeile und kein fließendes Wasser.
Regelmäßig war Concetta Bongiorno mit ihrem Sohn im Hof. Während das Kind spielte, nähte sie. Sie erinnert sich: „Ich konnte kein Deutsch und sprach mit Händen und Füßen.“ Eine französische Nachbarin konnte jedoch ein bisschen Italienisch. Die beiden Frauen kamen ins Gespräch und die Französin lieh Concetta Bongiorno eine Nähmaschine.
Im Winter kehrte die Familie Bongiorno nach Italien zurück – und kam kurze Zeit später wieder nach Viernheim. Concetta Bongiorno sagt: „Wir kamen jedes Mal, um nur ‚ein Jahr‘ zu bleiben.“ Ihr Mann besaß auf Sizilien ein eigenes Haus. So blieb die Familie drei Jahre in Italien. Hier kam Tochter Biagia zur Welt, Sohn Mario besuchte die Schule und lernte perfekt Italienisch.
Freundinnen raten ihr von Selbstständigkeit ab
Dann kam die vierköpfige Familie erneut nach Viernheim. Doch dieses Mal war Concettas Mann krank. Es stellte sich heraus, dass er zwei Jahre später nicht mehr in seinem Beruf als Maurer arbeiten konnte. Da hatte Concetta die rettende Idee: „Ich mache eine eigene Schneiderei auf.“ Eine Freundin warnte sie: „Du kannst weder Deutsch sprechen noch schreiben! Das wird nicht gelingen, du wirst Schulden machen.“ Eine zweite Freundin riet ebenfalls ab: „Ich helfe dir nicht. Das wirst du nicht schaffen.“ Eine dritte Freundin war ebenfalls dagegen.
Daraufhin nahmen Concetta und ihr Mann ihren ganzen Mut zusammen und klingelten an der Tür einer Frau, die eine Ladenfläche vermieten wollte. Concetta sagt: „Ich hatte mir die wichtigsten Worte aufgeschrieben.“ Die Vermieterin bat um eine zweiwöchige Bedenkzeit. Das Paar stellte sich noch bei einem weiteren Vermieter vor. Von beiden Vermietern kam eine Zusage. Concetta entschied sich für die Räume in der Rathausstraße.
Daraufhin ging sie zum Rathaus: „Ich wollte wissen, was ich für die Gründung einer eigenen Schneiderei beachten sollte.“ Der Mitarbeiter verstand ihr Deutsch nicht: „Ganz langsam.“ Dann wurde ihr geholfen. Die Mitarbeiterin des Schreibwarengeschäfts Adler half ihr bei der Auswahl der richtigen Formulare und Stempel.
Kunden halten Concetta über viele Jahrzehnte die Treue
Die Schneiderei in der Rathausstraße wurde ein Erfolg. Viele Kunden hielten Concetta über Jahrzehnte die Treue. Ihr Mann wurde Hausmann und versorgte den Haushalt und die Kinder. Als Concetta einmal von einem Arzt-Termin früher in die Schneiderei zurückkehrte, fand sie ihren Mann an der Nähmaschine: „Er brachte sich selbst das Nähen bei. Er machte den Weg vom Maurer zum Schneider.“
Nach 35 Jahren ging Concetta Bongiorno in Rente. Dem Nähen ist sie treu geblieben. Regelmäßig berät sie ehrenamtlich im Katholischen Sozialzentrum Frauen und Männer bei Fragen rund ums Nähen. Seit kurzem bietet sie mit einer weiteren Helferin auch im Familienbildungswerk ihre Hilfe bei Näharbeiten an. „Hier lernen Afrikanerinnen und auch Deutsche.“ Die Großmutter einer Enkelin und eines Enkels sagt: „Ich bin befreundet mit Menschen aus Italien, aus Deutschland und der ganzen Welt – wir sind alle Menschen.“
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