Vortrag - Historikerin Julia Scialpi referiert über das „Dorf im Aufbruch“ / Florierendes Vereinsleben bereits im Jahr 1900

Tabakanbau prägt Viernheim

Von 
Frank Kostelnik
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Über die Auswirkungen der Industrialisierung auf die Entwicklung Viernheims berichtet die Historikerin Julia Scialpi bei einem Vortrag im Museum. © Frank Kostelnik

Viernheim. Im Jahr 1900 hatte Vierheim 6816 Einwohner und war damit eines der größten Dörfer im Großherzogtum Hessen-Darmstadt. Aber eben ein Dorf. Erfasst wurde es von einer Dynamik, die im Deutschen Reich durch die rasante Industrialisierung allgemein zu verspüren war. Bis 1910 erhöhte sich die Einwohnerzahl Viernheims zwar um 35,5 Prozent auf 9240. Der erste Industriebetrieb siedelte sich vor Ort allerdings erst 1919 an. Die ehemaligen Bauern Viernheims hatten ihre Arbeitsplätze insbesondere in den Fabriken des 90 Minuten Fußmarsch entfernten Mannheim.

Diese und viele andere Details vermittelte die Heidelberger Historikerin Julia Scialpi im Stadtmuseum bei ihrem Vortrag „Viernheim um 1900 – ein Dorf im Aufbruch“. Die Referentin betreibt in Heidelberg eine Agentur für Kulturprojekte und historische Dienstleistungen. Sie studierte Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte in Marburg und Heidelberg. Museumsleiterin Gisela Wittemann wies bei ihrer Begrüßung darauf hin, dass Julia Scialpi schon an mehreren Forschungsprojekten – zum Beispiel an Zeitzeugenbefragungen in Viernheim – beteiligt war.

Die Haupteinnahmequellen der Viernheimer vor mehr als 100 Jahren waren Ackerbau, Holzhandel und der Tabak. Dieser gedieh wegen des warmen Klimas in Viernheim besonders gut, und sein Anbau war bis in die 1920er Jahre für Viernheim von großer Bedeutung. Auch Frauen konnten damals zum Familieneinkommen beitragen, indem sie in Heimarbeit etwa Zigarren rollten. In einer der heute noch erhaltenen Tabakscheunen sind nun die Viernheimer Stadtbibliothek und die Kulturscheune untergebracht.

Freibier im Wahlkampf

Im Jahr 1896 waren laut Julia Scialpi 395 Viernheimer in Tabakfabriken und 25 in Tabakhandlungen beschäftigt. Damit war die Tabakverarbeitung die größte Branche in Viernheim. Es folgte mit 56 Beschäftigten die Lumpensortieranstalt und mit 22 Angestellten das Dampfsägewerk von Josef Brückmann.

Es gab außerdem drei Brauereien, von denen eine Georg Pfützer gehörte, der von 1895 bis 1904 Viernheimer Bürgermeister war. Im Wahlkampf habe es folglich Freibier gegeben, so die Historikerin. Eine wichtige Rolle spielte in Viernheim auch die Forstwirtschaft. So durften die Bewohner den Wald als Gemeindegut nutzen. Außerdem war Viernheim Sitz einer Oberförsterei, die bis 1880 Ludwig Wilbrand inne hatte. Sein Sohn, Dr. Wilhelm August Wilbrand (1871-1954), veröffentliche Lebenserinnerungen, in denen er seine Kindheit und Grundschulzeit in Anekdoten schilderte. Aus diesen schriftlichen Erinnerungen las Julia Scialpi zum Ende ihres Vortrags einige Passagen vor.

Die Anbindung Viernheims an die „große weite Welt“ erfolgte 1887 mit der Fertigstellung der Bahnlinie der Oberrheinischen Eisenbahn-Gesellschaft (OEG) zwischen Mannheim und Weinheim. Zu dieser Zeit arbeiteten rund 400 Viernheimer in den Fabriken Mannheims, vor allem in der Zellstofffabrik Waldhof. Nicht alle von ihnen hätten sich die relativ teure Fahrt mit der Eisenbahn leisten können, berichtete Scialpi. Im Jahr 1907 gab es den ersten Automobilbesitzer in Viernheim, teilte die Historikerin mit.

Durch seine lange Zugehörigkeit zum geistlichen Kurfürstentum Mainz war und ist Viernheim überwiegend katholisch geprägt. 1900 lag der Anteil der Katholiken bei 93,8 Prozent. Ein Festtag für sie war der 1. September 1900, als nach der Marienkirche die zweite katholische Kirche in Viernheim, St. Aposteln, geweiht wurde. Daneben gab es eine jüdische Gemeinde mit rund 120 Mitgliedern und eine protestantische mit rund 300 Mitgliedern.

Zahlreiche Chöre

Schon damals verfügte Viernheim über ein florierendes Vereinsleben im Musik- und Sportbereich, erläuterte die Referentin. Neben Kirchenchören gab es drei Männergesangsvereine. Der erste Frauengesangsverein wurde 1947 gegründet. Sportlich aktiv waren die Menschen beim VTV 1893, der Turnergemeinschaft Germania, bei der Sodalität mit ihrer Fußballabteilung und bei der Amicitia von 1906. Durch das Geld, das die Fabrikarbeiter wöchentlich nach Viernheim brachten und die Nutzung des Allmende-Waldes, hielt sich die Armut in Grenzen, betonte Julia Scialpi. Die Kommune habe zum Aufschwung, den Deutschland bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs erlebte, beigetragen.

Freier Autor Geboren 1959 in Mannheim. Abitur 1978 ebenda. Lebt seit 1988 in Viernheim. Seit November 2013 freier Mitarbeiter des Südhessen Morgen

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