Viernheim. Es gibt Jazz-Musiker wie Michael Sagmeister, über deren Qualitäten man eigentlich nicht viele Worte zu verlieren braucht – und die deswegen so viel zu sagen haben, wenn man ihnen lauscht. Dass sich dieses Gesetz just zwei nach dem 59. Geburtstag des Gitarren-Routiniers konsequent fortsetzt, dürfen die Zuhörer auf voll besetzten Bänken am Sonntagvormittag auf dem Viernheimer Rovigoplatz eindrucksvoll erleben.
Obwohl die Sommersonne in schwüler Hitze mächtig auf den Platz brennt: Sagmeister und sein Trio ziehen die Zuhörer in Massen an. Das ahnt auch „Südhessen Morgen“-Chef Martin Schulte, der sich nach dem höchst gefeierten Lampertheimer Konzert 2017 nicht nur für einen weiteren „Morgen-Jazz“-Vormittag in Viernheim einsetzte, sondern an seinem eigenen Geburtstag kaum aus dem Schwärmen herauskommt.
Mühelos ohne Konventionen
Dass Schulte mit seinen Ankündigungen keinesfalls übertrieben hat, stellt das Trio aufs Feinfühligste unter Beweis. Denn wer die Musiker spielen hört, spürt, dass hier Solisten am Werk sind, die sich auf eigenes Virtuosentum ebenso verstehen, wie auf gemeinsames Ensemblespiel. Besonders begeistert über die drei Stunden des „Morgen-Jazz“-Konzerts hinweg vor allem die scheinbare Mühelosigkeit, mit der dieses Trio den Konventionen entkommt. Fast schon tänzerisch setzen sich die fliegenden Akkorde, die Michael Sagmeister nahezu durchgängig mit geschlossenen Augen spielt, über altbekannte Akkordharmonien hinweg und faszinieren in ihrer mikroskopischen Finesse.
Titel wie „Flower Tower“ sind da ein programmatisches Beispiel. Denn im wahrsten Sinne des Titels ranken sich in den derart unangestrengt flirrenden Ton-Sprösslingen Blumenberge über- und zwischeneinander, die melodische Komplexitäten wie das Einfachste auf der Welt erscheinen lassen. Da mögen Leistenprobleme Sagmeister in großen Teilen zum Sitzen gezwungen haben: Den Titel seiner aktuellen Platte darf man auch in diesen Stunden getrost als augenzwinkernden Hinweis auf die Konkurrenz verstehen – denn wer die Macht des Widerstands („Power of Resistance“) in nahezu blinder Selbstverständlichkeit zum genussvollen Meisterwerk veredelt, hat sich den stürmischen Beifall der Jazz-Liebhaber verdient.
Zumal Sagmeister mit Michael Küttner und Thomas Heidepriem zwei Edelsolisten zur Seite stehen, die den Meister an den sechs Saiten nicht nur seit fast vier Jahrzehnten kennen, sondern auch so agieren. Heidepriem am Bass koloriert das lustvolle Spiel des Dreigespanns nach Gusto und Laune grollend, ist aber jederzeit auch zu einem finsteren Solo bereit. Dass bei ihm selbst das dynamischste Progressive-Jazz-Stück einen Groove genießt, wie man ihn sonst nur von Größen wie Stanley Clarke kennt: richtungsweisend.
Auch Schlagzeuger Küttner fügt dem gemeinsamen Sound die entscheidenden Essenzen zu. Mal ergänzt er funkelnden Balladen wie „You Don’t Know What Love Is“ nur durch den stillen Besenstrich auf der Tom, mal verpasst er rasanten Swing-Chansons ein regelrechtes Feuerwerk der Kreativität und zeigt: Am Schlagzeug macht dem Professor der Mannheimer Musikhochschule so schnell niemand etwas vor. Dass sich dabei alle drei Musiker – mit dem gleichen Ziel vor Augen – stets ein Ohr füreinander und die Bedürfnisse des Publikums bewahren, das in Viernheim exakt die richtige Dramaturgie genießen darf, das geht auch an den Zuhörern nicht vorbei.
Dr. Heijo Kneuper und Yvonne Obrowski etwa sind aus Mannheim ins Südhessische gefahren, um Sagmeister und die Seinen nach über 30 Jahren wiederzusehen. Denn als das heutige „Zoom“ in Frankfurt im Jahr 1984 noch „Sinkkasten“ hieß und eine Location zwischen Kino und Konzertraum darstellte, war es Kneuper, der diesem „unfassbar harmonischen Miteinander“ lauschte, sich tief inspirieren ließ – und sich tatsächlich selbst einen Bass zulegte.
Dass er einst im Laden von Volker Kriegel auf Sagmeister traf, der ihm davon abriet, sich einen bundlosen Fretless Bass zu kaufen – den er nach und nach zu beherrschen lernte – ist mehr als eine Anekdote, die der passionierte Jazz-Hörer noch im Kopf hat, als sei sie gestern erst geschehen: In seinem Anliegen apostrophiert Kneupers Mut jenes Ansinnen, mit dem Sagmeister sein Genre als Saitentänzer virtuoser Revolutionskunst zum Besseren wendet und dafür anhaltend gefeiert wird.
Info: Fotostrecke unter suedhessen-morgen.de
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