Viernheim. Die psychischen Erkrankungen haben zugenommen, seit das Coronavirus uns vor ungeahnte Herausforderungen stellt. Das ist die erste Antwort von Stefanie Walbröl-Schley auf die Frage, welche Veränderungen sie als Hausärztin seit dem Ausbruch der Pandemie wahrgenommen hat. Speziell zum Stichwort Veränderungen sagt sie: „Wir haben die Praxis völlig neu organisiert.“
Die promovierte Internistin Walbröl-Schley führt die Hausarztpraxis in der Kröckelbacher Straße in Viernheim zusammen mit ihrer Kollegin Nadine Altfelder, ebenfalls promovierte Internistin; sie ist auch Notfall-Medizinerin. Walbröl-Schley macht die Zunahme psychischer Erkrankungen in ersten Linie an der Isolation fest, die die Pandemie für viele Menschen mit sich bringt. Es seien vor allem Ältere und Alleinstehende, oft mit chronischen Krankheiten, denen nun die ohnehin schon wenigen Begegnungen mit anderen Menschen auch noch abhandengekommen sind.
Zu große Einsamkeit
Es betrifft aber nicht nur diese Gruppe. Auch jüngere Menschen litten unter einem Mangel an sozialen Kontakten. „Nehmen Sie nur das Homeoffice: Manchen kommt das zupass, die genießen es, in Ruhe arbeiten zu können. Aber einer Mehrheit fehlen die Kontakte, die Gespräche am Arbeitsplatz“, sagt die Ärztin. Bei einigen chronisch Kranken verschlechtere sich überdies das Krankheitsbild durch zu große Einsamkeit. Sie verschreibe nun nicht unbedingt mehr Antidepressiva, „aber wir müssen vielen Patienten viel mehr zuhören und sie je nach Lebensumständen intensiv beraten“.
Das klingt mehr nach kümmern als nach rein medizinischer Behandlung. Walbröl-Schley beugt sich vor und stützt die Ellenbogen auf: „Aber natürlich. Kümmern und zuhören – das ist jetzt ganz enorm wichtig!“ Dass die Patientenzahl durch Corona gewachsen sei, habe sie nicht feststellen können. Aber der zeitliche Aufwand sei eben wie beschrieben gestiegen.
Und warum die Neuorganisation der Abläufe in der Praxis? „Damit haben wir sichergestellt, dass wir für unsere chronisch kranken Patienten da sein können wie zuvor. Und sie brauchen keine Angst zu haben, sich in dieser Praxis zu infizieren. Andererseits können wir durch die Veränderungen auch gewährleisten, für die akut Kranken und möglicherweise mit Covid-19 Infizierten da zu sein. Beides unter einen Hut zu bekommen, war unser Ziel. Und das haben wir geschafft.“
Die Praxis hat eine tägliche Infektionssprechstunde eingerichtet, in der Regel zwischen 12 und 13 Uhr. Die Arzthelferinnen tragen hier große Verantwortung, ihr verändertes Aufgabenfeld ist Teil der Neuorganisation. Sie müssen durch gezieltes Hinterfragen herausbekommen, warum der Anrufer einen Termin bei Frau Doktor will. Ist es Routine wegen einer bekannten Krankheit? Ist es nur ein Schnupfen? Sind Halsschmerzen dabei – und Fieber? Die Arzthelferinnen führen wesentlich längere Gespräche als zuvor, um das Risiko eingrenzen zu können. Dafür müssen sie viel Geduld aufbringen. Die Patienten auch. „Die Helferinnen sind hier eine wahnsinnig große Unterstützung. Sie machen das richtig gut. Und wir sind auf diese Mitarbeit angewiesen“, sagt Walbröl-Schley. Sie wird dieses Lob im Laufe des Gesprächs wiederholen.
Wenn sich das entsprechende Risiko abzeichnet, werden die Patienten in die Infektionssprechstunde verwiesen. Hier tragen die Ärztinnen wie die Helferinnen Schutzkleidung von Kopf bis Fuß. Und niemand anderes als der angemeldete Patient darf die Praxis betreten. Nach der Infektionssprechstunde werden die Räume gründlich desinfiziert. Dann geht der Tag normal weiter. Bis auf eins: Einfach mal unangemeldet reinschneien, „das geht überhaupt nicht“, sagt die Ärztin.
Die Entscheider auf Bundes- und Länderebene sowie Gesundheitsämter stehen wegen ihrer Vorgaben und Verordnungen häufig in der Kritik. Uneinheitlich und unverständlich sind zwei Stichworte. Die Frau an der Praxisfront kann die Kritik nachvollziehen. Etwa könnten sie und die Helferinnen gerne darauf verzichten, ein und dasselbe Abstrichröhrchen erst in eine zu beschriftende Tüte, diese dann in die zweite und die wiederum in eine dritte Tüte packen zu müssen, um sie auf den Weg ins Labor zu bringen.
„Ganz entsetzliche“ Demos
Ihr kämen bundeseinheitliche Vorgaben schon auch logischer vor, sagt Stefanie Walbröl-Schley. Andererseits gäbe es dann auch wieder Ungerechtigkeiten zwischen dicht und dünn besiedelten Regionen. Es sei eben sehr schwierig. Und, so ehrlich müsse sie sein: „Ich wollte diese Entscheidungen nicht treffen müssen.“
Apropos Schutzkleidung: Was sagt die Ärztin zu „Querdenker“-Demonstrationen, auf denen Tausende ohne Mundschutz und Schulter an Schulter grölend durch Berlin oder Leipzig ziehen? Jetzt verschwindet das muntere Strahlen um die Augen herum kurzfristig. „Ich finde das ganz entsetzlich. Auch entsetzlich gefährlich für die Mitmenschen. Das geht nicht in einer solidarischen Gesellschaft. Es macht mir Angst.“
Und wenn ein schwer keuchender Patient in ihrem Behandlungszimmer steht, beschleicht sie dann auch so etwas wie Angst? „Dann hätte ich den falschen Beruf. Wir leben mit einem gewissen Risiko, dass wissen wir, das wussten wir auch vor Corona schon. Deshalb schützen wir uns. Ich will ja auch keine Magen-Darm-Geschichte mit nach Hause nehmen“, sagt sie resolut.
Und das Strahlen ist auch zurück.
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