Serie Brundtland-Stadt - Brundtland-Beauftragter erklärt das Klimaschutzkonzept / Dieses Jahr Fahrrad und Sonne Schwerpunkte

Philipp Granzow: Wir hinken dem Klimawandel hinterher

Von 
Martin Schulte
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Der Brundtland-Beauftrage Philipp Granzow vor seinem Büro in der Wasserstraße – mit dem Klimaschutzkonzept in der Hand. © Martin Schulte

Viernheim. Das Klimaschutzkonzept der Stadt Viernheim hat es in sich. 235 DIN-A4-Seiten eng bedruckt mit Fachbegriffen und Zahlen. Es gibt keinen berufeneren Menschen in Viernheim, um den Außenstehenden durch diesen Dschungel zu navigieren, als Philipp Granzow. Er ist seit 1995 Brundtland-Beauftragter der Stadt und Leiter des Brundlandt-Büros in der Wasserstraße 20. Seine dominierende Erkenntnis: „Wir hinken dem Klimawandel hinterher, wir persönlich als Menschen – als auch politisch.“ Das gelte weltweit.

Nachdem Viernheim 1994 den Brundtland-Preis gewonnen hatte, wurde 1995 ein erstes Klimaschutzkonzept erstellt. Es beschäftigte sich mit den Aspekten Energie und Verkehr. Das aktuelle Konzept stammt aus 2018. Es sei aufgelegt worden, weil das alte nicht mehr zeitgemäß gewesen sei, sagt Granzow im Gespräch mit dieser Redaktion. Das neue Konzept beinhaltet nun weitere Bereiche: einen modernen Ansatz für die Mobilität, die Lebensstile und das Konsumverhalten sowie die Klimaanpassung. Letztere umfasst die Anpassung öffentlicher wie privater Aktivitäten an bereits real vorhandene Folgen des Klimawandels, wie etwa die Phasen der Extremhitze im Sommer oder die unwetterartigen Starkregen.

Granzow auf die Frage, welches seine drei wichtigsten Erkenntnisse aus dem Klimaschutzkonzept sind: „Da ist zum Ersten bestimmt die Erkenntnis, dass Klimaschutz unzählig viele Facetten hat.“ Der konsumierende, arbeitende und mobile Mensch hinterlasse quasi bei jedem Tun eine Kohlendioxid-Spur. Es würde hier nicht etwa zwischen der Einzelperson und der produzierenden Industrie unterschieden. Der einzig geltende Faktor ist der CO2-Fußabdruck aller Einzelpersonen zusammen.

Der Brundtland-Beauftragte erklärt das am Beispiel: Wer sich eine Stereoanlage kauft, übernimmt auch einen Anteil an der CO2-Emission, die bei der Produktion entstanden sind – bis hin zum Ausstoß beim Abbau der Rohstoffe wie der Edelmetalle, die in der Anlage stecken.

Die zweite Erkenntnis sei, dass bei jeder Maßnahme immer die Kette aller beteiligten Akteure zu betrachten sei, so Granzow. Auch hier ein Beispiel: Das Brundtland-Büro wird demnächst mit einer Werbekampagne für den Einbau von Wärmepumpen in die Öffentlichkeit gehen. Deshalb versorgt das Büro derzeit die örtlichen Installationsbetriebe mit informationen über die Wärmepumpe und ihre Technik. Granzow: „Wenn wir öffentlich werben, die Leute dann bei den Handwerkern anrufen und die kein Know How haben, dann wäre das kontraproduktiv.“

Granzow zu Erkenntnis Nummer drei: „Es nutzt nichts, über Technologien zu verfügen, sie müssen auch gewollt und eingesetzt werden.“ Granzow hat 1999 sein Passivhaus im Bannholzgraben gebaut. „Bis heute, über 20 Jahre später, ist diese Technologie noch nicht Standard bei Neubauten.“ Das liege zum einen am mangelnden politischen Willen und dem entsprechenden Druck durch Gesetze. Zum anderen sei der viel zu zögerliche Einsatz klimaschonender Technik in der „Trägheit von uns Menschen“ begründet.

Nach einer Erhebung des Bundesumweltministeriums produziert der Durchschnittsbürger knapp zwölf Tonnen CO2-Ausstoß im Jahr. Dabei macht der Konsum über 50 Prozent aus, ohne Flugreisen und Autofahren. Laut Granzow würde die Umwelt 1,2 Tonnen verkraften können. Die Differenz von über zehn Tonnen macht die Dimension der Problematik deutlich.

30 Prozent weniger CO2

Mit dem Brundtland-Preis von 1994 war die Aufforderung verknüpft, die CO2-Emissionen bis 2010 um 30 Prozent zu reduzieren. Hat Viernheim dieses Ziel erreicht, wenn nicht bis 2010, dann bis heute? Das lasse sich gar nicht belastbar nachprüfen, sagt Granzow. Man könne zwar einerseits ausrechnen, wie viel CO2 mit technischen Maßnahmen im privaten und öffentlichen Bereich seit 2010 eingespart wurde. Aber die Stadt sei eben auch gewachsen, viele Parameter hätten sich verändert, und die Autos seien mehr und größer geworden.

Das Klimaschutzkonzept, die von einem Fachbüro erstellte Grundlage der Arbeit des Brundtland-Büros, hat nach Granzows Angaben 75 800 Euro gekostet. 90 Prozent der Summe habe das Bundesumweltministerium finanziert. Das Konzept war auch Bedingung für Granzows Forderung nach mehr vom Bund geförderten Stellen in seinem Büro. Mit Vorlage des Konzepts seien die 2,5 Stellen um zwei aufgestockt worden.

Das Brundtland-Büro hat sich für dieses Jahr zwei Schwerpunkte vorgenommen: eine Kampagne zur Nutzung der Sonnenenergie durch Photovoltaik (PV) und eine öffentliche Werbeinitiative für das Radfahren, die im März beginnt.

Mittels Öffentlichkeitsarbeit in der lokalen Presse sowie mit Unterstützung der Stadtwerke habe das Brundtland-Büro 15 sogenannte Bürgersolarberater engagieren können, sagt Granzow. Das seien Viernheimer Bürger, die durch Photovoltaik auf ihren Dächern Strom gewinnen und in ihrer Wohnumgebung dafür Werbung machen wollen.

Laut Granzow gibt es in Viernheim rund 6000 Gebäude, aber nur auf jedem zehnten sei eine PV-Anlage installiert. Hier sei also noch viel Luft nach oben. Der ehemalige Bürgermeister-Kandidat Wolfram Theymann hat kürzlich in einem Interview mit dieser Redaktion beklagt, Viernheim forciere die Nutzung der Sonnenenergie auf Privatgebäuden viel zu wenig. „Das kann er so sehen“, sagt Granzow. Und macht deutlich, dass die Stadt PV-Anlagen auf Bestandsgebäuden nicht anordnen könne. Sie könne nur dafür werben, über den Nutzen und die Fördermöglichkeiten informieren. „Und das tun wir ja jetzt, und zwar noch stärker als bereits üblich.“

Info: Viernheim.de „Brundtland und Klimaschutz“

Redaktion Reporter.

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