Gesundheit

Not in der Pflege auch in Viernheim: "Das ist doch verrückt"

Beim Pressegespräch mit der Caritas in Viernheim wird wieder einmal deutlich, dass die Not im Pflegebereich schier ungebremst zunimmt. Eine verantwortliche Mitarbeiterin denkt manchmal daran, einfach hinzuschmeißen

Von 
Martin Schulte
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Claudia Dewald-Haas wäscht einer Patientin der Viernheimer Sozialstation die Hände. Die Pflegedienstleiterin wollte nicht komplett aufs Bild. © caritas

Viernheim. Das Attribut prekär hat im Bezug auf die Situation im Pflegebereich längst ausgedient. Es scheint eher angebracht zu sagen, dass sie auf eine menschliche Katastrophe zusteuert. Und zwar auf beiden Seiten - bei Patienten und Pflegenden. Bei der Jahrespressekonferenz des Caritasverbands Darmstadt, zu dem Viernheim gehört, sind die Bilanzen für Finanzen und Leistungen, die auf dem Tisch im Gemeindepsychiatrischen Zentrum liegen, Nebensache. Alles dreht sich um den Personalmangel. Auf unsere Frage, ob sie manchmal daran denke hinzuschmeißen, sagt Pflegedienstleiterin Claudia Dewald-Haas unumwunden: „Ja. Und nicht nur einmal.“

Wenn jemand so etwas sagt, während seine beiden obersten Chefs unmittelbar daneben sitzen, dann muss die Not groß sein. Aber die beiden Vorstände des Caritasverbands Darmstadt, Stefanie Rhein und Winfried Hoffmann, reagieren nicht etwa sauer, nein, sie zeigen Verständnis. „Wir nehmen das natürlich wahr“, sagt Hoffmann. Viele seien schon gegangen, viele trügen sich mit dem Gedanken.

Die Pflegedienstleiterin bringt auf den Punkt, worin die immense und doppelte Belastung liegt. Da ist einerseits der Fakt, nicht mehr genug Kolleginnen und Kollegen zu haben, um die Arbeit einigermaßen zufriedenstellend leisten zu können. Sie muss auf immer weniger Mitarbeiter verteilt werden. Aber „zufriedenstellend“, das gilt auch für die eigene Lebensqualität und die des Kollegiums. „Wir sind alle kaputt. Viele von uns nehmen regelmäßig Schmerzmittel.“

Zwölf Tage am Stück

Im Pflegedienst arbeiten die - zumeist - Frauen zwölf Tage am Stück, danach gibt es zwei freie Tage. Im Tarif stehen 39 Stunden pro Woche. „Da ist es schwer, am normalen Leben teilzunehmen.“ Claudia Dewald-Haas kennt Leute, die in Mannheim bei Mercedes arbeiten. „Die sagen, zu diesen Bedingungen würden sie niemals eine Rufbereitschaft machen.“ Und vom viel besseren Grundgehalt mal ganz abgesehen, hätten sie eine 35-Stunden-Woche. Und da ist der seelische Druck, der die Mitarbeitenden plagt. Diese Menschen haben es sich zum Beruf gemacht zu helfen. Das ist eine Berufung. Aber immer öfter können sie nicht helfen, müssen Patienten abweisen. Das zermürbt sie, wie Dewald-Haas zu verstehen gibt. „Wenn jemand uns für Hausbesuche braucht, lehnen wir ab. Die Menschen sind daheim, manche alleine, und können nicht versorgt werden. Wir können erst wieder neue Patienten annehmen, wenn wir mehr Leute haben. Zum Verzweifeln. Die Menschlichkeit bleibt auf der Strecke.“

Aber die Flinte ins Korn werfen will die Pflegedienstleiterin dann doch nicht: „Wir sind immer noch ein tolles Team, und das schweißt zusammen.“ Auch wenn die Arbeit über die Schmerzgrenze hinausgeht. Caritas-Vorstand Winfried Hoffmann erklärt, man versuche, mittels Veränderungen in der Kultur des Verbands gegenzusteuern. Etwa sei man bei der Bezahlung an die Grenze des Möglichen gegangen. So werde die Inflationsausgleichsprämie in voller Höhe ausbezahlt. 2,2 Millionen Euro habe die Caritas dafür aus den Rücklagen genommen - ohne sicher zu sein, die Summe von den Geldgebern erstattet zu bekommen.

Es werde an neuen Arbeitszeitmodellen gearbeitet, die zwölf Tage am Stück stünden auf dem Prüfstand, Fortbildungen sollen ermöglicht werden. Hoffmann: „Aber wie wollen sie Mitarbeitende zur Fortbildung schicken, wenn so viele Leute fehlen?“ Eine rhetorische Frage. Vorstandskollegin Stefanie Rhein ergänzt, man prüfe, alternative Arbeitsverträge zu entwickeln, zum Beispiel ausschließlich für Wochenenddienst.

„Das ist doch verrückt“

Mit dem Blick auf die Rahmenbedingungen in der Pflege ruft Winfried Hoffmann, die Arme hochreißend, plötzlich: „Das ist doch verrückt.“ Womit wir bei der Politik wären. „Die ist viel zu weit weg von der Realität“, sagt Stefanie Rhein. Die Landesregierung hat ein Gesetz reformiert, dass es fachnahen Bewerbern ermöglichen soll, in die Pflege oder die Kita-Betreuung einzusteigen. Es gilt ab 1. August. Hoffmann winkt ab: „Dieses Reförmchen . . .“

Alexander Bauer (CDU) sitzt für den Wahlkreis Bergstraße West im hessischen Landtag. Er will sich die Probleme vor Ort anhören und Stellung beziehen, sagt er auf unsere Nachfrage. Diese Redaktion wird mit am Tisch sitzen.

Redaktion Reporter.

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