Kirche

„Kohlgraf verändert das Bistum“

Der Mainzer Bischof Kohlgraf personifiziert den Gegenentwurf zu seinem Vorgänger Kardinal Lehmann. Kohlgraf sucht den Dialog mit Missbrauchsopfern. Darüber sprechen wir mit dem Viernheimer Pfarrer Ronald Givens. Der findet deutliche Worte

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Martin Schulte
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Pfarrer Ronald Givens spricht leise – aber wortgewaltig. © BERNHARD KREUTZER

Herr Pfarrer Givens, Sie sind im Jahr 2000 als Religionslehrer an die Albertus-Magnus-Schule entsendet worden, weil dort ein katholischer Geistlicher wegmusste - ihm wurde sexueller Missbrauch vorgeworfen. Wie erinnern Sie sich heute an Ihren Start an der AMS?

Ronald Givens: Für den Start selber hat der Fall insofern eigentlich keine Bedeutung für mich, weil ich zu dem Zeitpunkt zu wenige Informationen hatte. Und zum anderen ja auch erst durch die vielen Missbrauchsstudien, durch die vielen Fälle und die Presseberichte angefangen habe, mich mit Opfern und Tätern auseinanderzusetzen und auch zu sehen, wie Kirche damit umgegangen ist. Was ich zu Beginn wusste, war, der Betreffende muss weg, und er wird ganz sicher nicht mehr mit Jugendlichen arbeiten. Welche Tragweite der Wechsel hatte, ist mir erst im Nachhinein bewusst geworden.

Bischof Peter Kohlgraf hat im Interview mit dieser Redaktion auf Basis seiner Studie von aktuell 401 Betroffenen und 181 Beschuldigten im Bistum seit 1945 gesprochen. Wie sehen Sie die Zahlen?

Givens: Ich kann die Zahlen eigentlich gar nicht beurteilen. Würden Sie mir jetzt die 401 Namen der Opfer vorlesen, dann würden wir nicht mehr über Zahlen reden, sondern irgendwann würde uns die Sprache wegbleiben. Die Zahlen stehen für den Versuch, etwas zu fassen, was, sobald Namen dahinter stehen, nicht mehr zu fassen ist. Und wäre es nur ein Opfer, muss man sagen, dieses System hat versagt, wenn dieses Opfer erst jetzt in den Blick genommen wird.

Sie sprechen wie der Bischof von Systemversagen. Wie Sie einmal gesagt haben, lebten viele Bischöfe und Kardinäle in einer eigenen, sehr abgehobenen Welt. Jetzt sucht Kohlgraf den Dialog mit den Kirchengemeinden und ermutigt Opfer, sich bei ihm zu melden. Wie stehen Sie dazu?

Givens: Ich halte das für notwendig. Ich sehe darin aber auch nur einen ersten Schritt. Wenn Menschen den Mut haben, sich bei ihm zu melden, besteht zumindest die Möglichkeit einer unmittelbaren Begegnung, statt den Weg über Sekretariate gehen zu müssen. Ich sehe bei Kohlgraf den ehrlichen Willen, diese Begegnung zu suchen. Und dass er spürt, so wie wir bisher gehandelt haben und wie sein Vorgänger gehandelt hat, kann er, kann Kirche nicht weitermachen.

Sie sprechen Kardinal Lehmann an. Der hat laut Studie Betroffene brüsk abgewiesen.

Givens: Ja, das kann ich mir vorstellen. Sie müssen sich aber die Aura vorstellen. Eigentlich ist das Abweisen, die Schroffheit eines Lehmann schon schlimm genug. Aber es gibt einen anderen Sachverhalt, den zu betrachten ich für wichtiger halte. Vielleicht kann man Kohlgrafs Handeln dann besser einordnen. Ein Beispiel: Als Bischof Tebartz-van Elst aufgeflogen ist . . .

. . . nicht mit Missbrauch, sondern mit seiner Prasserei.

Givens: Ja. Daraufhin hat ein Nachrichtenmagazin recherchiert, welche Dienstwagen die deutschen Bischöfe fahren. Alle wurden aufgeführt - außer einem: Lehmann. Das Magazin hat Lehman ausgelassen, weil es damals nicht ins Bild passte, dass der große, liberale Lehmann Mercedes fährt. Es gab eine Aura um diesen Mann, dass da nicht nachgehakt worden ist. Und deswegen ist es auch so wichtig, dass Kohlgraf jetzt sagt: Ich muss raus aus diesem Mainzer Zirkel. Er will Menschen zumindest die Chance geben, mit ihrem Bischof wieder in Kontakt zu treten. Den haben sie normalerweise nicht.

Womit wir wieder bei der Abgehobenheit der Kirchenobrigkeit sind.

Givens: Bei aller Leutseligkeit - sie konnten Lehmann nicht mit Kritik kommen, das habe ich ja selbst erlebt. Wir sind insgesamt in einem System, in dem nach wie vor keine Kritik möglich ist, weil wir alle abhängig sind . .

. . . mit „wir“ meinen Sie auch sich als Priester?

Givens: Ja, natürlich, in allererster Linie sind wir Priester in einem starken Abhängigkeitsverhältnis. Wir können gegenüber der Bistumsleitung nur bedingt kritisch auftreten, weil wir an anderer Stelle von ihr abhängig sind. Es wird seit langem darum gerungen, in der Kirche eine Verwaltungsgerichtsbarkeit aufzubauen, um Entscheidungen etwa der Bistumsleitung anzweifeln zu können. Heute können Sie das de facto nicht.

Das sind dicke Bretter.

Givens: Ja. Es ist doch kein Wunder, dass jetzt erst, nachdem der Druck durch die Initiative „Out In Church“ entstand, das Arbeitsrecht der Kirche so zu verändern, dass Menschen, die in Lebensverhältnissen sind, die einen Entlassungsgrund darstellen, zum ersten Mal die Möglichkeit rechtlichen Schutzes haben.

Das ist doch ein Fortschritt.

Givens: Und dennoch haben wir in der Kirche immer noch so viele Abhängigkeiten, dass ein freies Wort fast unmöglich ist. Allerdings, das muss ich sagen, unter Kohlgraf verändert sich hier etwas.

Kohlgraf wurde 2017 Bischof von Mainz, die Studie hat er 2019 beauftragt. Das war schnell. Die Zeit vor ihm betreffend - wäre eine solche Untersuchung nicht sehr viel früher notwendig gewesen, nachdem, was man schon alles wusste?

Givens: Für Kohlgraf war es sehr früh, für das Bistum Mainz war es sehr spät. Kohlgraf stand ja nicht nur vor den Problemen des Missbrauchsskandals. Er hat zudem das Problem, dass Lehmann sich in seinen letzten Jahren nicht mehr um die Finanzen und die Strukturen gekümmert hat. Er hat eine Diözese hinterlassen, die wirtschaftlich und in anderen Bereichen in einer schwierigen Lage war. Kohlgraf war und ist nicht zu beneiden.

Lehmann stand auf dem Sockel.

Givens: Absolut. Er stand innerhalb der Kirche und auch in der Öffentlichkeit auf dem Sockel. Es war schwer zu erkennen, dass er ein eiskalter Karrieremensch war.

An der Studie haben sich rund 40 Prozent der Kirchengemeinden des Bistums beteiligt. Wie beurteilen Sie die Studie vor diesem Hintergrund grundsätzlich?

Givens: Eigentlich ist das erschreckend. Wobei ich nicht interpretieren kann, in welche Richtung die Zahl deutet. Wenn 40 Prozent rückgemeldet haben, kann das zum einen bedeuten, der Informationsfluss hat nicht funktioniert. Also, dass das, was der Bistumsleitung wichtig war, nicht nach unten transportiert werden konnte, so dass es dort auch als wichtig wahrgenommen wurde. Hier würde sich die Frage stellen, warum das, was Verantwortlichen wichtig ist, eine Stufe darunter nicht als wichtig erkannt wird.

Und zum anderen?

Givens: 40 Prozent könnten auch bedeuten, dass die, die noch in der Kirche verblieben sind und Verantwortung tragen, oder solche, die in der Kirche engagiert sind, derart resigniert haben, dass sie sagen: Warum soll ich da etwas rückmelden. Es ändert sich ja doch nichts. Das wäre auch katastrophal . . .

. . . in welche Richtung tendieren Sie?

Givens: In Richtung Resignation.

Hat Viernheim gemeldet?

Givens: Ja, wir haben aufgerufen, und es gab drei Rückmeldungen, die wir an die Kanzlei, die mit der Studie beauftragt war, weitergeleitet haben.

Sie haben bereits vor der Initiative Kohlgrafs Betroffene in Viernheim dazu aufgerufen, sich zu melden. Wann war das?

Givens: Eineinhalb Jahre vor Kohlgrafs Initiative. Damals wurden die unabhängigen Missbrauchsbeauftragten für die Diözese ernannt. Und wir haben in Viernheim aufgerufen, sich bei ihnen zu melden.

Wissen Sie, ob sich jemand gemeldet hat?

Givens: Nein.

Bei Ihnen persönlich hat sich niemand gemeldet?

Givens: Nein, zu mir persönlich ist niemand gekommen. Es gab im Nachhinein ein Gespräch mit einer Person auf deren Wunsch, damit eine alte Geschichte heilen kann.

Im Interview mit dieser Redaktion sagte Bischof Kohlgraf auch, es gebe keine Garantie dafür, dass Missbrauch nicht weiter passiere. Das ist in sich logisch. Man kann nicht allen Priestern Aufpasser an die Seite stellen. Dennoch, stockt Ihnen da nicht der Atem?

Givens: Nein, der Atem stockt mir nicht. Aber es macht die Problematik sichtbar. Ich nehme unserem Bischof ab und auch den Verantwortlichen, dass sie alles getan haben, um rückwärts zu schauen . . .

. . . rückwärts im Sinne der Aufarbeitung?

Givens: Ja, im Sinne der Aufarbeitung. Aber wir bewegen uns in einer Blase. Wir gucken hin, wir schauen, wie wir es verhindern können. Da sind wir inzwischen gut aufgestellt. Aber wir haben nie gründlich hinterfragt, was die Gründe für diese große Problematik sind . . .

. . . der Zölibat?

Givens: Genau, der gehört dazu sowie die gesamte Sexualmoral der Kirche und die Verweigerung, sich auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Wenn man sagt, bestimmte Dinge dürfen nicht angesprochen werden, dann schafft man genau die Grundlage für weitere Schwierigkeiten.

Ist das nicht eiskalte Erkenntnisverweigerung?

Givens: Und zwar im Namen einer Tradition, die in eine Zeit gehört, die mit der Gegenwart nichts mehr zu tun hat. Die Kirche hält an Strukturen des 18. und 19. Jahrhunderts fest. Die Kirche wird nicht umhinkommen, sich Realitäten zu stellen, um diese Probleme in den Griff zu bekommen.

Was meinen Sie konkret?

Givens: Ich würde mal hinschauen, was ein Mensch braucht, um glücklich zu sein. Dazu gehört die Sexualität. Wir müssen da hinkommen, dass die, die in der Kirche arbeiten, und die, die sich in der Kirche versammeln, Sexualität nicht unter einem negativen Vorzeichen sehen. Dann, glaube ich, entsteht eine andere Atmosphäre, die auch verhindert, dass wir in diesem Fahrwasser bleiben. Mit Verboten wird es nicht funktionieren.

Redaktion Reporter.

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