Kriegsende - Zeitzeuge Hans Renner berichtet vom Einmarsch der amerikanischen Truppen / 650 Soldaten werden in Häusern der Bürger untergebracht

Karwoche bringt Erlösung von den Schrecken

Von 
Caspar Oesterreich
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Eine amerikanische Panzerdivision erreicht am 27. März 1945 Viernheim. Die Soldaten werden mit weißen Fahnen empfangen. © Bild aus „Viernheim zwischen Weimar und Bonn“

Viernheim. Hans Renners Knochen tun weh, als er am Morgen des 27. März 1945 auf dem harten Liegestuhl aufwacht. Wie die Tage zuvor hat die Familie die Nacht im Keller verbracht. „Alle Fensterscheiben in unserem Haus waren kaputt, kurz zuvor ist eine Bombe direkt in der Nachbarschaft eingeschlagen“, erzählt der damals zehnjährige Viernheimer. Die Scheune in der Alexanderstraße 38 sei durch die Explosion stark beschädigt worden. „Wir haben jede Nacht das Artilleriefeuer und die Tiefflieger gehört. Alle ahnten, dass die Amerikaner bald kommen“, berichtet Renner im Gespräch mit der Redaktion.

Er kann sich noch genau daran erinnern, wie er an jenem Dienstagmorgen die Kellertreppe hochgeht und hinaus aufs Feld vor dem Haus schaut: „Unser Hoftor stand offen. Die amerikanischen Soldaten hatten das Feuerholz mitgenommen, um sich hinter den Stämmen in ihren flachen Schützengräben auf dem Acker besser verschanzen zu können. Und überall sind Jeeps der US-Army herumgefahren.“

Wie fast alle Viernheimer nimmt seine Mutter ein weißes Handtuch und bindet es an einen Stock. „Wir waren froh, dass der Krieg endlich zu Ende ist“, erzählt Renner. Fast in jedem Fenster hätten weiße Fahnen die Soldaten begrüßt. Auch am höchsten Ort der Stadt, der Apostelkirche, befestigen die drei Messdiener Peter Hoock, Othmar und Manfred Müller das Zeichen der Kapitulation. In aller Eile binden sie die Schutzhüllen der Messgewänder an die Stange der Prozessionsfahne.

Schokolade und Kaugummi

Nur einen Tag bevor die Amerikaner Viernheim erreichen, hatte sich der Volkssturm aufgelöst. Es fällt kein Schuss, als die US-Panzer über das Pflaster rollen. „Stattdessen gab es Schokolade und Kaugummi für die Kinder. Ein junger Mann hat sogar Zigaretten bekommen“, erinnert sich Renner. Aber ganz vertrauen die Befreier den Deutschen noch nicht: In kleinen Truppen durchsuchen die Soldaten die Häuser und halten nach Heckenschützen ausschau.

Als sie auf dem Turm der Apostelkirche drei Gestalten entdecken, gehen sie sofort in Deckung. Die jungen Messdiener, die eigentlich nur das Spektakel auf den Straßen beobachten wollen, bekommen es plötzlich mit der Angst zu tun und versuchen, so schnell wie möglich zu verschwinden. Zwei schaffen es, aber einer wird von erbosten Viernheimer Männern verprügelt, die die unblutige Besetzung Viernheims gefährdet sehen.

Doch Pater Bernhard Determann kann die Wogen glätten. Am 29. März 1945 schreibt er in die Pfarrchronik: „Die Karwoche brachte für Viernheim die Erlösung von all den furchtbaren Kriegsschrecken.“ Die Viernheimer sind ihren Befreiern dankbar und beeindruckt von den zahlreichen Panzern der Amerikaner. Nur die Zwangsräumungen machen den Bürgern zu schaffen. Mehr als 650 Soldaten müssen untergebracht werden.

„Unser Haus war eines der wenigen, die schon damals über ein Badezimmer mit Toilette verfügt haben“, erinnert sich Renner. „Da haben sich natürlich die Offiziere einquartiert.“ Familie Renner kommt bei Freunden unter. Erst nach sechs Wochen dürfen sie zurück nach Hause. Etwa zu dem Zeitpunkt, als der Zentrums-Politiker Nikolaus Schlosser am 27. April 1945 im Auftrag der Militärregierung als neuer Bürgermeister die Verwaltung übernimmt. In einem Appell an die Viernheimer schreibt er damals: „Wir haben auch die Absicht, Andersgesinnte zur positiven Mitarbeit zuzuziehen und mit ihnen in ehrlicher und demokratischer Weise einträchtig zusammen zu raten und zu taten zum Besten unserer Heimatgemeinde. [...] So wollen wir einmütig zusammenhalten, um unseren Heimatort einer lichteren Zukunft entgegenzuführen.“ (mit bhr)

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