Viernheim. Der arabische Ausdruck „al watan“ bedeutet „Heimat“. So lautet der Titel der neuen Ausstellung von Cholud Kassem im Kunsthaus Viernheim „al watan: Vom Reisen und Ankommen“. Mit der Präsentation kehrt die Künstlerin tatsächlich in ihre Heimat zurück, nämlich nach Viernheim. „Ich kenne Viernheim wie meine Westentasche“, sagte sie bei der Eröffnung, „so habe ich mir immer gewünscht, meine Arbeiten in Viernheim auszustellen.“ Heute lebt und arbeitet sie in Heidelberg.
Gut 100 Gäste waren gekommen, so dass die Vernissage vor das Kunsthaus verlegt wurde. Fritz Stier, Erster Vorsitzender des Kunstvereins, begrüßte die Besucher und betonte die enge Verbindung zwischen Biographie und Kunst: „Ohne diese Lebensgeschichte würden die Arbeiten vollkommen anders aussehen.“ Ein Video demonstriert die Parallelen zwischen Leben und Werk, und damit wird Viernheim zum Teil der Kassem-Kunst.
Cholud Kassem ist in der irakischen Hauptstadt Bagdad geboren. Mit drei Jahren wanderte sie mit ihrer Familie nach Deutschland aus, weil ihr Vater ein Stipendium für ein Maschinenbau-Studium erhalten hatte. Die Mutter kehrte in den Irak zurück, während der Vater mit den beiden Kindern in Deutschland blieb. Als der Vater überfordert war, kamen die Kinder zunächst in eine Viernheimer Pflegefamilie und später getrennt in Heime in Mannheim. Als der Vater wieder heiratete, lebte Cholud nochmals einige Jahre bei ihm in Viernheim.
Sichtlich berührt sprach Kassem davon, dass sie während der Vorbereitung der Ausstellung Orte ihrer Viernheimer Jugend besucht hatte – den Maria-Ward-Kindergarten, die Fröbelschule und das Waldschwimmbad, wo sie das erste Mal geküsst wurde. Nach der Schule hatte sie – ebenfalls in Viernheim – eine Ausbildung zur Zahnarzt-Helferin absolviert. Über eine Begabtenförderung erhielt sie Zugang zum Studium der Fächer Kunst, Geographie und Deutsch an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Ihre künstlerische Tätigkeit begann sehr privat: Auf Tagebuch-Blättern fertigte sie 140 „Schutzlinge“, geschrieben mit „u“. So hatte sie Bilder zum eigenen Schutz geschaffen. Als Hans Gercke, Professor und früherer Leiter des Heidelberger Kunstvereins, die Bilder zufällig zu Gesicht bekam, gab er Kassem sofort die Chance zu einer Ausstellung. Nach diesem Durchbruch im Jahr 2000 folgte eine Ausstellung nach der anderen, zum Beispiel in Mannheim, Speyer, Schwetzingen, Worms, Bautzen, Unna und Berlin. Aus Tagebuch-Blättern wurden großformatige Bilder, und die geometrischen Formen wurden zu fast gegenständlichen Darstellungen. In seiner Einführung sagte Dietmar Schuth vom Kunstverein Schwetzingen: „Das Papier hat einiges zu leiden.“ Die Künstlerin trägt meist viele Farbschichten auf, die dann „abgekratzt“ werden.
Die „Schutzlinge“ verändern sich. Mal sind es „Schutzmäntel“, mal ähneln sie Amuletten, mal verwandeln sich Pinsel in „Waffen“. Vor wenigen Jahren begegnete Kassem ihrer Mutter nach Jahrzehnten das erste Mal wieder. Ihr Onkel hatte sie über Google gefunden. So lernte sie in Elazig einen Teil ihrer mütterlichen Familie kennen. Sie sagt: „Eine große Heilung.“ In ihren Arbeiten mischt sie heute christliche mit islamischen und buddhistischen Elementen. Sie selbst wurde katholisch getauft, ihr Bruder wurde Buddhist. Die neuesten Arbeiten verarbeiten die Corona-Zeit mit „Weeping Pillows“, weinenden Kissen.
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