Viernheim. Mehr als 150 Menschen wurden ganz still, als Bürgermeister Matthias Baaß ein Fenster der Kulturscheune öffnete, damit der Klang der nahen Kirchenglocken zu hören war. Damit begann das städtische Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November 1938. Baaß sagte: „Gedenken heißt auch immer Erinnern.“
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Mykhaylo Kotlyarsky, Vorsitzender des Jüdischen Kulturvereins, konnte an dem Gedenken aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen. Baaß zitierte ihn: „Vor 85 Jahren wurden in der Nacht vom 9. zum 10. November im Reichsgebiet mehrere hundert Juden ermordet, mindestens 300 nahmen sich das Leben. Rund 1400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume jüdischer Menschen sowie Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden gestürmt und zerstört.“ Baaß nahm auch Bezug auf den Terror der Hamas vom 9. Oktober: „Wir alle verurteilen dies zutiefst und ringen nach Worten. Schon beim Überfall auf Putin auf die Ukraine im vergangenen Jahr ereilte uns eine gleiche Fassungs- und Sprachlosigkeit, fast schon Erstarrung - weil wir aus unseren Träumen und Illusionen gerissen wurden, die wir mit einer friedfertigen Zukunft für uns selbst verbunden hatten.“
Gastredner war Burak Yilmaz aus Duisburg. Er sagte: „Als ich die Anfrage erhielt, musste ich googeln, wo Viernheim liegt. Wenn man in Duisburg aufwächst, kommt es nicht oft vor, dass man das eigene Nest verlässt. Für mich ist es ein Erlebnis und ein Privileg, durch diese Republik zu reisen und über Themen zu sprechen, die unsere Gesellschaft empören und spalten.“
Die Großeltern von Burak Yilmaz sind aus der Türkei nach Deutschland eingewandert. Er selbst wurde in Duisburg mit türkischen, kurdischen, polnischen, deutschen und russischen Kindern groß. Als der Jugendliche nach der Zeit des Nationalsozialismus fragte, stieß er auf eine Mauer des Schweigens bei den deutschen Mitbürgern. Dann recherchierte er im Stadtarchiv die Ereignisse des 9. Novembers 1938: „In unserem Stadtteil lebten über 150 Jüdinnen und Juden, die in dieser Nacht aus dem Schlaf gerissen und später nach Dachau deportiert wurden.“
In der Folge hinterfragte er das Selbstbild der deutschen Bevölkerung. Er warnte: „Wir haben seit Jahren einen Anstieg antisemitischer Gewalt. Anstatt unsere Erinnerungskultur zu loben, müssten wir sagen: Unsere Erinnerungskultur ist gescheitert. Diese Erinnerungskultur braucht einen Neuanfang, mit dem wir kontrovers, aber respektvoll miteinander streiten.“
Der Redner erzählte, wie er als Betreuer von palästinensischen Jugendlichen 2012 das erste Mal die Gedenkstätte in Auschwitz besuchte. Er traf dort israelische Jugendliche, die Bilder ihrer ermordeten Verwandten in Händen hielten. Er fragte sich: „Wie sind sie mit dem Leid umgegangen?“ Yilmaz nahm ebenfalls Bezug auf die aktuellen Ereignisse in Nahost: „Wir sind nicht ohnmächtig gegen diesen Hass. Das Problem ist, dass wir zu wenig gegen Antisemitismus getan haben.“
Nach dem Vortrag versammelten sich die Besucher zum Gedenken beim Holocaust-Mahnmal. Bürgermeister Baaß erinnerte an den israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin, der sich aktiv für den Frieden mit den Palästinensern einsetzte und 1995 ermordet wurde. Zuvor hatte der Chor der Friedrich-Fröbel-Schule einen Song von Udo Lindenberg gesungen: „Wir lassen diese Welt nicht untergehen. Komm, wir ziehen in den Frieden.“ Eine Mutter sagte: „Da bekomme ich Gänsehaut, der Text kommt aus dem Herzen.“ Die städtische Gedenkstunde wurde vom jüdischen Religions- und Kulturverein Viernheim „Schalom“ und dem Viernheimer Forum der Religionen mitgetragen.
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