Kerzen leuchten rund um das Alte Rathaus in Schriesheim. Hier haben sich am Donnerstagabend mehr als 300 Bürgerinnen und Bürger zu einer Mahnwache versammelt. Die Menschen gedenken dabei nicht nur den Opfern der Reichspogromnacht vom 9. November 1938, fordern „nie wieder“, sondern bekennen sich auch zu ihrer Verantwortung für Demokratie, Toleranz und Menschenrechte. Eine parteiübergreifende Initiative „Gemeinsam für Demokratie“ hatte zusammen mit den evangelischen und katholischen Kirchengemeinden zu dieser Gedenkveranstaltung aufgerufen.
Gegen Rechtspopulismus
Die neue Initiative wende sich „mit wachsender Sorge gegen das Erstarken von Antisemitismus, Rechtspopulismus und Demokratiefeindlichkeit“, betont Mitinitiator Jan Brüning. „Der 9. November ist daher ein gutes Datum, uns daran zu erinnern, wo unsere Verantwortung liegt“, erklärt Angelika Vogt von der Jugendstiftung Baden-Württemberg, Fachbereichsleiterin für „Demokratie vor Ort“, in ihrer Gedenkansprache. Die Schriesheimer Initiative sei „ein guter, erster Schritt“.
„Bleiben Sie dran“, fordert sie ihre Zuhörer auf. Es sei wichtig, wie sich die Gesellschaft, die Demokratie entwickle, „damit sich der 9. November 1938 nie mehr wiederholen kann!“ Als „Schicksalstag der Deutschen“ bezeichnet die Referentin das geschichtsträchtige Datum: 1918 ruft Philipp Scheidemann die erste Deutsche Republik aus, 1923 putscht Adolf Hitler in München – und 1938 brennen in Deutschland 7500 jüdische Geschäfte, werden 191 Synagogen zerstört, werden Jüdinnen und Juden getötet, verprügelt und gedemütigt. „Nur wenige haben sich dem schrecklichen Treiben entgegengestellt. Die Juden konnten nicht auf die Solidarität ihrer Nachbarn setzen“, erinnert Vogt an die Geschehnisse. Deshalb stehe der 9. November 1938 für den Niedergang, den Tiefpunkt von Demokratie und Menschlichkeit – und habe zur Ermordung von sechs Millionen Juden, Sinti und Roma und Andersdenkender geführt.
Jan Brüning hatte schon in seiner Begrüßung daran erinnert, dass sich auch in Schriesheim am 10. November 1938 ein Mob vor der Synagoge versammelt und das jüdische Gotteshaus geschändet habe: „Die Kronleuchter wurden von der Decke gerissen, Bücher, Teppiche und Bänke aus der Synagoge geholt und ins Feuer geworfen.“
Brücke in die Gegenwart
Über den 9. November 1989, den Tag des Mauerfalls, schlägt Angelika Vogt eine Brücke in die Gegenwart, zum Terrorüberfall der Hamas in Israel. Sie schildert aber auch die Angst jüdischer Kinder, von Juden in Deutschland, auf die Straße zu gehen. Die Rednerin warnt im Kampf für die Demokratie und Menschlichkeit vor antidemokratischen Parteien wie der AfD – und belegt ihre Anklage mit menschenfeindlichen Zitaten der rechten Partei. Michael Kahlhofer, Erin Egin, Felix Müller und Marlene Ehlermann vom Kurpfalzgymnasium, die mit ihrer Musik die Gedenkveranstaltung begleiten, sind erschüttert. „Gerade die aktuellen Hintergründe waren mir noch nicht so klar“, gesteht Michael Kahlhofer. Das Quartett stehe deshalb „voll hinter der Demokratie-Initiative“.
Dies betont auch Bürgermeister Christoph Oeldorf: „Wir wollen hier gemeinsam ein Zeichen setzen gegen Antisemitismus, Unmenschlichkeit und Intoleranz. All das hat keinen Platz in unserer Gesellschaft, egal welche Religion, Rasse, Hautfarbe oder Neigung!“
In Ilvesheim haben sich Bürgermeister Thorsten Walther und Mitglieder des Gemeinderats am Mahnmal zum Gedenken an die Ilvesheimer Opfer des Holocaust versammelt. Der 85. Jahrestag der Reichspogromnacht sei eine schreckliche Erfahrung gewesen, so Walther. Er und alle Ratsfraktionen hätten sich klar positioniert, „dass das oder Ähnliches nie wieder passiert“. Walther kündigte an, dass der Ilvesheimer Historiker Markus Enzenauer (Marchivum Mannheim) am Donnerstag, 30. November, im Bürgerhaus Hirsch über „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ spricht.
Mit einem ökumenischen Friedensgebet gedachten die römisch-katholische und die evangelische Kirchengemeinde in Ladenburg mit der Poetin Gudrun Schön-Stoll („Winterwinde“) der Pogrome von 1938. Dass dies vor dem Hintergrund des menschenverachtenden Hamas-Terrors in Israel sowie eines zunehmenden Antisemitismus umso wichtiger sei, betonte Pfarrer David Reichert. „Gegen diese Entwicklung“, so Bürgermeister Stefan Schmutz, „können und müssen wir etwas tun“. Er rief dazu auf, „nicht zu schweigen, sondern sich klar zu einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft und den universellen Menschenrechten zu bekennen.“
Einordnung des Schicksalstages
In der ehemaligen Synagoge in Hirschberg wagte der Geschichts- und Politikwissenschaftler, Autor und „MM“-Redakteur Konstantin Groß eine Einordnung des Schicksalstags der Deutschen – angesichts der unterschiedlichen Konnotation dieser Ereignisse sei die Frage, wie diesem Tag zu gedenken ist, eine dauernde Herausforderung für die demokratische Gesellschaft. Der 9. November symbolisiere die Hoffnungen der Deutschen, aber auch den Weg in die Verbrechen des „Dritten Reiches“. Wohl kein anderes Datum in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts habe derart die Emotionen geschürt und kontroverse Diskussionen hervorgerufen wie der 9. November: Fall der Berliner Mauer 1989, Reichspogromnacht 1938, Hitlerputsch 1923, Novemberrevolution 1918 und das Scheitern der Märzrevolution 1848.
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