Mit einer Gedenkstunde an der Kriegsopfergedenkstätte haben alte und junge Schriesheimer gemeinsam an die Opfer des nationalsozialistischen Regimes gedacht. Der Organisator, Professor Joachim Maier, hatte die Veranstaltung absichtlich auf Samstagvormittag gelegt. Zu diesem Zeitpunkt waren die Geschäfte in der Schriesheimer Stadtmitte noch geöffnet, Lieferwagen fuhren vorbei und die Bürger gingen ihren Erledigungen nach. „Ich möchte, dass wir heute in unserem Alltag innehalten und uns an die vielen Menschen erinnern, die im Nationalsozialismus ermordet und getötet wurden“, betonte Maier.
Eingeleitet wurde das öffentliche Gedenken von einer Schweigeminute, zu der die Glocken der evangelischen und katholischen Kirche läuteten. Anschließend ergriff Joachim Maier das Wort und erinnerte daran, dass am 27. Januar vor 73 Jahren alliierte Soldaten das Konzentrationslager Auschwitz befreit hatten. In unmittelbaren Kämpfen um die Befreiung starben 231 Soldaten der Roten Armee. Im Lager befanden sich zu diesem Zeitpunkt nur noch 8 000 kranke und erschöpfte Menschen. In den Effektenlagern der Nazis fanden die Soldaten jedoch rund 370 000 Herrenanzüge, 837 000 Damenmäntel und Unmengen an Kinderkleidung. Die ehemaligen Besitzer waren alle in den Gaskammern ermordet worden. Um an die grausamen Taten des Nationalsozialismus zu erinnern, ist der 27. Januar zum Tag des Gedenkens an die Opfer geworden.
Ein Innehalten im Alltag
An der Opfergedenkstätte wurden schon vor Jahren sieben Tafeln mit den Namen aller gefallenen Soldaten aus Schriesheim und eine Tafel mit 32 Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft angebracht. Dieser Ort bietet den Bürger die Möglichkeit, einen Platz für ihre Trauer zu schaffen, an den sie immer wieder kommen können, um eine Kerze anzuzünden oder Blumen niederzulegen.
Um zu zeigen, dass hinter den Namen auf den Tafeln Menschen stecken, stellte Joachim Maier das Schicksal dreier Männer vor, in deren Leben und Sterben sich 2018 besondere Jahrestage finden. Alfred Herbst wohnte in der Landstraße 36 und war bekennendes Mitglied der Baptisten-Gemeinde in Schriesheim. Herbst war ein Gegner der Nationalsozialisten und verweigerte den Kriegsdienst, weshalb er inhaftiert, verhört und vors Reichskriegsgericht gestellt wurde. Am 20. Juli 1943 verurteilte man Alfred Herbst wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ zum Tode. Noch heute erinnert die Alfred-Herbst-Straße in Schriesheim an diesen besonders mutigen Menschen.
Auch Julius Fuld wurde Opfer des Nationalsozialismus. Er lebte mit seiner Familie in Schriesheim und führte einen gut gehenden Viehhandel. Obwohl er eine silberne Verdienstmedaille verliehen bekommen hatte, wurden er und seine Frau Minda 1940 ins Internierungslager Gurs gebracht. Die in New York lebende Tochter Flora konnte 1941 jedoch die Ausreise der Eltern über Marseille ermöglichen. Doch da war Julius Fuld schon so geschwächt und erkrankt, dass er 1943 in New York starb.
Ludwig Sussmann, der wegen einer Behinderung nicht mit seiner Familie aus Deutschland in die USA ausreisen durfte, wurde 1940 ebenfalls in das Internierungslager Gurs deportiert und starb dort bereits nach vier Wochen an Typhus. Zum Gedenken an Ludwig Sussmann und an Julius Fuld sollen in den kommen Jahren Stolpersteine in Schriesheim verlegt werden.
Während Maier die Geschichten der drei Schriesheimer verlas, stießen immer mehr Menschen zur Gruppe der Gedenkenden hinzu. Es waren Leute, die einfach nur durch Zufall an der Kriegsgedenkstätte vorbei kamen – auf dem Weg zum Einkaufen oder auf einem Spaziergang. Und das war genau das, was der Organisator geplant und sich gewünscht hatte.
Ein Innehalten im Alltag und ein spontanes Gedenken an die Menschen, die auf so grausame Art aus ihrem eigenen Alltag gerissen worden waren. Zum Abschluss sprachen die Anwesenden gemeinsam ein Stück des jüdischen Autors Schalom Ben-Chorin, der den Holocaust selbst überlebt hatte und 1942 das Lied „Das Zeichen“ schrieb. Es handelt von einem blühenden Mandelzweig als Zeichen der Zuversicht, dass sich Friede, Gerechtigkeit und Freiheit gegen das Unheil durchsetzen werden.
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