Stadtteil-Weihnachtsgeschichte

Weihnachten in Wolkengondeln

Wie auf dem stillgelegten Bundesgartenschau-Gelände ein kleines Wunder passiert

Von 
Iris Welling
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Wolkengondeln an einem Regenbogen auf der Buga? Der 11-jährige Sebastian hat dieses Bild dazu gemalt. © Eva Baumgartner

Herrn Hektisch graute vor Weihnachten, denn alle Jahre wieder stellte sich bei Frau Hektisch schlechte Stimmung ein. Die Tanne war krumm gewachsen; immer hing eine Kugel schief oder das Haar des Engels auf der Spitze war nicht lockig genug. Der Wein, den er für den Festtagsbraten mit der Verwandtschaft aus dem Keller holte, war entweder zu teuer oder zu billig. Und das größte Problem überhaupt: Was wünschte sich seine Angetraute zu Weihnachten?

In diesem Jahr war ihr Wunsch unmöglich zu erfüllen. Noch dazu war es seine eigene Schuld. Sie hatte ihn nicht dazu bringen können, mit ihr die Bundesgartenschau zu besuchen. Zu kalt, zu warm, zu wenig Schatten, zu viel Sonne, dann Regen … schwupps war’s vorbei. Auch vorbei mit ihrem Wunsch, ihn hoch oben in der Schwebebahn, in luftiger Höhe zu küssen, wo 1975 ihre Liebe begann.

Eisiges Wasser

Iris Welling

Iris Welling (Jahrgang 1956) ist eine Mannheimer Autorin. Der „Mannheimer Morgen“ veröffentlichte im Dezember 1987 erstmals ein Werk aus ihrer Feder.

1994 gewann sie beim Literaturwettbewerb der Mannheimer Räuber 77 den 3. Preis beim Märchen-Wettbewerb.Danach ging es weiter mit Veröffentlichungen in Anthologien.

Im Dezember 2010 erschien ihr Buch „Rugas Abenteuer am Blauen Wasser“ – ein Drachen-Buch, das dem Sandhofer Freibad gewidmet ist. 2012 erschien „Jasminchen – vom Kinder- zum Kleinwagen“. 2016 folgte die Fortsetzung von Rugas Abenteuern und 2018 erschien beim Waldkirch-Verlag der Krimi „Späte Rache rostet nicht“, 2020 folgte der zweite Krimi-Teil „Rache, Hut und Poolgeflüster“.

Im Dezember 2020 erschien „Klaus Kariert“ über einen Jungen, der zum Kater wird und 2021 „Die Hundeflüsterin – unheimliche Geschehnisse in Spirkelhambach“, in dem es um verschwundene Hunde geht. 2023 folgte der dritte Krimi „Rache, Tanz und Eifersucht“. baum

Verzweifelt eilte Herr Hektisch ins Freibad Sandhofen, wo er oft Weihnachts-Probleme hatte lösen können. Doch in diesem Jahr blitzte nirgendwo eine Flügelspitze hervor. Herr Hektisch beschloss, im eisigen Restwasser zu baden. Wenn er rasch eine Erkältung bekam, könnte er über die Feiertage im Bett bleiben und sich pflegen lassen. Hoffentlich.

Triefend schleppte er sich nach Hause, übte unterwegs, kläglich zu husten. Damit scheuchte er einen finsteren Gesellen auf, der gerade versuchte, Frau Hektischs Linzertorte zu stibitzen, die zum Auskühlen auf dem Fensterbrett stand. Herr Hektisch konnte den Dieb gerade noch am Umhang packen.

„Loslassen!“, protestierte der, „erkennst du mich nicht? Ich bin Felix, der Schutzengel aus dem Freibad!“

„Wo sind die weißblonden Locken?“, Herr Hektisch musterte misstrauisch Felix’ rotbraune Haare, Jeans und Pullover, „wo ist das weiße Hemdchen?“

„Bei der Kälte im Hemd zu fliegen ist kein Vergnügen, glaub’ mir“, wies ihn Felix zurecht, „und überhaupt sind das nur Vorurteile, wie man als Engel auszusehen hat. Engel ist man vor allem mit dem Herzen.“

„Und was ist mit den Teufeln?“, fragte Herr Hektisch, „wie soll man die rechtzeitig erkennen? Und was, wenn sich Teufel wie Engel kleiden? Und wieso bist du nicht in deinem Freibad? Da gab’s doch immer was zu besprechen … mit diesem Dings … dem Wunschzettel-Engel. Und wieso klaust du unseren Kuchen?“ Felix schwirrte der Kopf von all den Fragen.

„Die Wunschzettel-Engel haben schon Weihnachten 2022 unzählige Jahreskarten und Gutscheine für die Buga verteilt“, erklärte Felix, „und wir alle waren neugierig, was sich dahinter wunderbares verbirgt. Leider auch die Teufel. So wurde das Gelände für die After-X-mas Party aufgeteilt: Spinelli gehört den Teufeln und der Luisenpark den Engeln. Das Motto der Party lautet übrigens ‘Sei du selbst’. Und jeder Teilnehmer soll etwas für das Menü mitbringen. Als Eintrittskarte sozusagen.“

„Du weißt aber schon, dass die Buga seit Oktober zu Ende ist?“, fragte Herr Hektisch zögerlich.

„Das kann doch einen Engel nicht abhalten.“ Felix grinste. „Was willst du für den Kuchen? Und überhaupt … warum bist du pitschnass?“

Beim glitzernden Tannenbaum! Herr Hektisch jubilierte innerlich: Vor ihm stand die Lösung seiner Weihnachtsprobleme!

„Behalt’ den Kuchen und ich schweige, dass ich dich beim Klauen erwischt habe.“ Rasch erzählte er von Frau Hektischs Weihnachtswunsch.

Felix stimmte zu, dass beide bei ihm mitfliegen konnten, vorausgesetzt, Herr Hektisch zog sich trockene Kleidung an, denn er wollte keine nassen Flügel bekommen. Jetzt musste Herr Hektisch nur noch seine Frau zu einem Engel-Flug überreden! Es war an der Zeit, energisch aufzutreten.

„Nicht fragen“, er stülpte seiner Gattin ihren Fahrradhelm über, „dein Weihnachtsgeschenk wartet draußen. Und pack’ die Frikadellen und den Kartoffelsalat ein. Wir brauchen zwei Eintrittskarten.“

Kulturelle Aneignung

Frau Hektisch sah aus dem Fenster und bestand darauf, sich vor dem Abflug als Engel zu verkleiden: weißes langes Hemd, blonde Perücke und goldene Flügel von der Weihnachtsfeier der Enkel.

„Beim vertrockneten Lebkuchen! Das ist ein Fall von kultureller Aneignung“, schimpfte Felix und Frau Hektisch zog sich rasch um. Nach einem stürmischen Flug spazierten sie Hand in Hand durch den Luisenpark. „Sieh nur“, murmelte Frau Hektisch, „hier sieht keiner wie ein Engel aus.“

„Das Motto der himmlischen Weihnachtsparty lautet ‘Sei du selbst’. Und warum soll es keine Engel geben, die rothaarig sind“, tat Herr Hektisch weltmännisch kund, „die Haarfarbe darf beim Berufswunsch kein Hindernis sein. Es soll sogar blonde Teufel geben“, fügte er, stolz auf seinen Einfall, hinzu.

„Dann muss das ein Teufel sein“, kreischte Frau Hektisch, „als Engel verkleidet. Da ist was schwefel-faul!“

„Typisch Mensch“, schimpfte der Engel, „nein, ich bin naturblond und diese Stupsnase hab’ ich schon immer. Und ich liebe mein weißes Hemdchen. Ich bin ein Engel und will auch so aussehen!“

Schon kam das nächste Problem; In seiner Aufregung hatte Herr Hektisch vergessen, dass seit Oktober die Schwebebahn geschlossen war!

„Also nix mit meinem Geschenk“, murrte seine Gattin. Auch die Engel ließen enttäuscht die Flügel hängen. „Wozu braucht ihr eine Schwebebahn?“,wunderte sich Herr Hektisch, „ihr könnt doch fliegen!“

„Hier geht es ums Prinzip“, erklärte Felix, „wir haben es verdient, uns einmal im Jahr fliegen zu lassen. Keine Regentropfen, die dir die Flügel schwer machen. Kein Gegenwind und keine vorbei zischenden Turbovögel mit spitzen Schnäbeln!“

Felix gab die Beschwerde über das himmels.net weiter. Und die Abteilung ‘Himmelswohl für Mitarbeiter’ hatte ein Einsehen. Ein prächtiger Regenbogen wuchs aus der stillgelegten Schwebebahn, überbrückte den Luisenpark zum Spinelligelände. Wolkengondeln schaukelten daran. Herr Hektisch reichte seiner Herzensdame die Hand. „Dein Weihnachtswunsch wird dir jetzt erfüllt“.

„Hier sitzt man wie auf Wolken“, seufzte sie beglückt und küsste ihn wie einst 1975 über dem Neckar.

Als die ersten Wolken-Gondeln auf dem Spinelli-Gelände ankamen, drängten sogleich die Teufel herbei und stiegen zu. Da auch sie keine Arbeitskleidung trugen, konnte auf der anderen Parkseite der Securitas-Engel keine Trennung durchführen; zumal Teufel wie auch Engel verweigerten, sich in Gruppen auf zu teilen. Auch Herr und Frau Hektisch spürten fragende Blicke. „Zu welcher Abteilung gehört ihr? Engel oder Teufel?“ Wie zu erwarten, waren beide unterschiedlicher Meinung.

„Monnem ist wirklich bunt“, rief Frau Hektisch begeistert, als sie zurück zum Luisenpark schwebten. Der Meinung waren alle und so ging es ‘riwwer und niwwer’ – und Engel, Teufel und Mensch feierten gemeinsam und genossen scharf gewürzte und sanft-sahnige Speisen.

Erst bei Sonnenaufgang startete Felix mit seinen Passagieren zurück nach Mannheim-Nord.

Also nicht wundern, wenn am Weihnachtshimmel ein schwankendes Flugobjekt zu sehen ist. Alle drei hatten eifrig vom Himmelswein gekostet, wobei sich Frau Hektisch noch immer fragte, warum die himmlische Linzertorte genau wie ihre geschmeckt hatte.

Alla donn: Allerseits ein Frohes Fest!

Freie Autorin

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