Mannheim. Wie in jedem Jahr flog der Wunschzettelengel Mannheim-Nord (WZ-Engel) am Heiligen Abend Richtung Sandhofer Freibad. Dieses Mal voller Sorge über den Wunschzettel des Schutzengels Felix: „Sommerurlaub im nächsten Jahr“, stand darauf. Eindeutig ein unerfüllbarer Wunsch, den es eigentlich nicht geben durfte.
Als er vor den Umkleidekabinen im Freibad landete, war von weihnachtlich-friedlicher Stimmung allerdings keine Spur. Vor dem Kiosk saßen die Schutzengel aus dem Herzogenried-, dem Carl-Benz- und dem Rheinauer Freibad und lauschten Felix’ Klagen: Im kalten Wasser hatte er arbeiten müssen, und jetzt forderte er für den nächsten Sommer dringend eine Aushilfe, da er unmöglich alleine für ein ganzes Freibad Schutzengel sein konnte.
9-Euro-Ticket
Die anderen stimmten eifrig zu, erzählten von Schutzengel-Kollegen, die wegen des 9-Euro-Tickets quer durchs Land gehetzt waren, sich samt Flügeln in volle Züge zwängen oder sogar hinterherfliegen mussten. Bogen sie falsch ab, fanden sie ihre Schutzbefohlenen erst mit Verspätung wieder. Sogar das Wort Streik wehte über die leeren Wiesen. Der Wunschzettel-Engel trat aus seinem Versteck, wünschte allen „Fröhliche Weihnachten“, doch plötzlich hatten es Felix’ Kollegen eilig und flogen davon.
„Wir müssen über deinen unerfüllbaren Wunsch reden“, begann der WZ-Engel. Doch Felix blieb trotzig. „Nächsten Sommer will ich in Urlaub fliegen und deshalb brauche ich Hilfe und Vertretung!“
„Als Freibad-Schutzengel muss man sich darüber im klaren sein, dass es keinen Sommerurlaub gibt“, tadelte der WZ-Engel sanft, „und genau wie beim Personal im Freibad gibt es auch bei deinem Berufsbild momentan Mangel!“
„Ich will nicht mehr ständig auf der Hut sein müssen“, murrte Felix, „die Menschen starren nur noch auf ihr Telefon und verlassen sich darauf, dass wir Schutzengel Kopf und Flügel für sie riskieren. Unser Flugtraining ist härter als bei Top Gun, damit wir jeden Fehltritt voraussehen. Und das alles ohne Anerkennung, denn wir bleiben ja unsichtbar! Und dann noch die vielen Kinder, die nicht richtig schwimmen können! Ich mach’ da nicht mehr mit! Du bist ja nur einmal im Jahr im Einsatz!“
„Aber im Gegensatz zu mir hast du im Winter nix zu tun“, gab der WZ-Engel zu bedenken, „wie wäre es mit Urlaub im Herbst oder Frühling?“ Doch Felix bestand auf Strandurlaub.
Dem WZ-Engel musste es gelingen, aus dem unerfüllbaren Wunsch einen ZVW (zäher-Verhandlungs-Wunsch) zu machen. Doch vorher musste er sich stärken. Er bat Felix, noch einmal alles zu überdenken und flog zum Sandhofer Stich, um sich auf dem Wochenmarkt bei Glühwein und Dampfnudeln für die bevorstehende Schlichtungsverhandlung zu stärken. Die grün bekittelten Damen dort wussten einen hungrigen Engel zu bewirten.
Während er schmauste, sah er, dass sich im Brunnen am Stich etwas rührte. Silbrige Schleier schwebten hin und her. „Beim dampfenden Glühwein“, der WZ-Engel betrachtete das Wasserwesen, „warum sitzt du auf dem Trockenen? Ist das wegen der Krise?“
„Ja, wegen der Klimakrise. Ich bin Frilla, eine Wassernixe. Mein Fluss ist ausgetrocknet, und eine nette Krähe flog mich hierher. Doch jetzt wird mir auch hier der Hals trocken. Das Wasser ist abgestellt und von den spärlichen Regentropfen kann ich mich nicht ernähren! Ich werde wohl als traurige Pfütze enden!“
Der WZ-Engel verschluckte sich am Glühwein. Was für ein Heiliger Abend! Ringsum nur Krisen und Probleme! Doch wenn er es geschickt anstellte, könnte er gleich zwei davon lösen.
Seit Juli nicht beheizt
Er berichtete Frilla von Felix’ Wunsch nach Hilfe im Freibad. „Aber ich sage dir gleich, das Wasser ist seit Juli nicht mehr beheizt.“ Frilla murmelte nur: „Besser kaltes Wasser als auszutrocknen.“ Aufgeregt versuchte sie, in den letzten Tropfen ihr Spiegelbild zu erkennen: Welke Blätter hingen in ihrem Silberhaar, Zeitungspapier klebte an ihrem Arm fest. War sie hübsch genug für einen echten Freibad-Schutzengel? Der WZ-Engel griff nach einer herumflatternden Plastiktüte. „Vertrau mir und blubbere hinein.“
Den Flug zurück zum Freibad überstand die Nixe ausgezeichnet, da der Engel sie in den letzten Glühweinresten transportierte. Das war wohl auch der Grund dafür, warum Frilla bei der Landung rosig leuchtete. „Dein Wunsch ist erfüllt, Felix. Das ist Frilla, eine Wasser - äh, Schutz-Nixe, deine neue Mitarbeiterin!“ „Willkommen in deinem neuen Zuhause“, rief Felix erfreut, „hier kannst du je nach Wetterlage in den Warm- oder Kaltwasserrohren wohnen und früh morgens rutschen. Oder du lauschst den Schwimmbad-Millionärinnen, die ihre Kochrezepte austauschen und hilfst bei der Seepferdchen-Prüfung mit einem hilfreichen Schubs.“
„Ein schönes Plätzchen“, mit Wohlgefallen sah sich Frilla um, „hier gibt es wenigstens große Bäume. Bei diesem Brunnen ist ja kaum Grün zu finden - und tief ist er auch nicht! Wann fängt meine Schutz-Nixen-Ausbildung an?“
Endlich spürte der WZ-Engel weihnachtlichen Frieden und flog beruhigt weiter. Bei einem letzten Blick über die leeren Wiesen sah er Frilla eingehüllt in glitzernde Wasser-Schleier die orange-gelbe Rutschbahn hinabschweben - gefolgt von Felix. Ob er überhaupt im Sommer noch Urlaub wollte?
Nur die Freibad-Schutzengel aus den anderen Mannheimer Stadtteilen bereiteten ihm Sorge, aber so trocken wie der Sommer gewesen war, saßen sicher Schwestern oder Brüder von Frilla in trockenen Flüssen und Seen und suchten eine neue Heimat.
Der Engel überlegte. Sollte auch er selbst etwas Neues ausprobieren? Nach Weihnachten hatte er reichlich Zeit. Auf der Wiese hier wäre genug Platz für eine himmlische Job-Börse. Alle, die ihr Berufsbild ändern wollten, Zweitjobs suchten oder was Neues probieren wollten, könnten sich hier treffen. Wassernixen, Engel und Teufel. . . Mit den richtigen Verlockungen ließe sich das Nachwuchsproblem im Freibad sicher lösen. Die Teufel könnten probieren, wie es sich als Schutzengel anfühlt und manch allzu sanftmütiger Engel würde sich als Bademeister versuchen. Was für eine tolle Kombination: gestrenger Bademeister mit engelsgleicher Geduld - ein neuer Berufszweig! Und das Wasser der Saison 2023 könnten die Teufel gleich mit heizen.
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