Mannheim. Entschlossen umfasst Julyen das gerade mal zwei Hand große Bündel vor sich. Dennoch ist äußerste Vorsicht angesagt, denn die kleine Halbkugel mit der schwarzglänzenden Nase besteht nicht nur aus unzähligen spitzen Stacheln, sondern hat auch noch am linken Vorderlauf eine empfindliche Stelle. Die kleine Wunde ist das einzige Überbleibsel einer großen offenen Verletzung.
Schwestern aus dem Klinikum hatten den Findling halbverhungert und auf der Seite liegend entdeckt und vor einigen Monaten zu Gabriele Popp gebracht. Heute heißt der braunbrüstige Bursche Kurt und ist nach sorgfältiger Pflege der Igelexpertin nicht nur von 400 auf 1000 Gramm angewachsen.
Er ist so weit genesen, dass ihn Julyen risikolos aus seiner Kiste nehmen und in die Höhe heben kann. Der Elfjährige aus dem Kinderheim St. Josef strahlt stolz. „Jetzt pikst es ein bisschen, er will wieder runter“, stellt der Nachwuchspfleger fest und setzt Kurt zurück auf die Papiertaschentuch-Unterlage.
Findelkind ins T-Shirt gewickelt
Heute erfüllt sich für Julyen ein Wunsch, den er schon seit Jahren hegt und den er wegen der Corona-Hygienemaßnahmen erst mal hinten anstellen musste. Denn fast genau 18 Monate ist es her, dass er die Jugendgruppenleiterin Jessica Hecht zum Gassigehen mit Labradormischling Leila begleiten durfte. Und da die Hündin eine echte Igelspürnase ist, blieb ihr ein mutterloses Igelmädchen im Gebüsch nicht unverborgen. Julyen wickelte das Findelkind in sein T-Shirt und nahm es mit. „Glücklicherweise haben wir in einem ,MM’-Artikel gelesen, dass es eine Frau gibt, die sich um verletzte oder unterernährte Igel kümmert“, berichtet die stellvertretenden Einrichtungsleiterin Sabine Mall: „Und da haben wir gleich gedacht, das ist doch unsere Frau Popp.“ Schließlich hat die Mannheimerin nicht nur ein Herz für nachtaktive Schwarznasen.
Ob ein Ventilator für die Gruppenarbeit fehlt, ob es gilt, Laptops zu organisieren oder einem besonders benachteiligten Kind einen Wunsch zu erfüllen: „Sie denkt immer an uns“, versichert Mall. „Aber das mit den Igeln, das war uns neu.“ Umso mehr freuten sich Julyen und seine Betreuer, dass ihr Fund nun in altbekannte, fachkundige Hände kam. Inzwischen darf der Igelfreund Gabriele Popp bei der Behandlung von Wiebke helfen. Das einjährige Tier wurde von einer Frau in Wallstadt mit einem verletzten linken Auge gefunden. Eine Igelstation in der Pfalz vermittelte die Dame an Gabriele Popp. „Die wissen dort, dass ich kranke Augen meistens ganz gut wieder hinkriege, “ erzählt die Stacheltier-Flüstererin und hält die Patientin für Julyen etwas in die Höhe, damit er Wiebke verarzten kann. Behutsam tropft er das Medikament in eines der schwarzen Knopfaugen. „Sehr gut machst du das, Julyen“, lobt Gabriele Popp: „Auch in das andere, vorsichtshalber immer in beide Augen.“
Igelhilfe und Kinderheim St. Josef
- Die Gründerin des „Igelnests Mannheim“, das eine Igelambulanz ist, behandelt in Kooperation mit der Stadt mutterlose oder verletzte Fundtiere, betreibt Aufklärungsarbeit in Schulen und organisiert Infoabende rund um die Vierbeiner. Erlöse landen ohne Abzüge in der Futter- und Tierarztkasse. Ziel jeder Behandlung ist immer die Auswilderung.
- Igelnest-Gründerin Gabriele Popp sucht zur Zeit dringend eine Wohnung oder ein Häuschen mit Garten bei tierlieben Vermietern.
- Infos rund um die stacheligen Säuger und zu Fundtieren, die krank oder verletzt sind, gibt es bei Gabriele Popp unter der Mobilnummer 0176/63 45 46 36.
- Das Katholische Kinder- und Jugendheim St. Josef wurde 1851 gegründet und befindet sich seitdem in katholischer Trägerschaft. Heute leben hier in Wohngruppen und Wohngemeinschaften rund 80 Kinder und Jugendliche. Daneben werden aber auch zahlreiche weitere Hilfen wie sozialpädagogische Familienhilfe, Tagesgruppe und soziale Gruppenarbeit angeboten.
- Weitere Infos unter Katholisches Kinderheim St. Josef, Telefon: 0621 /72071-0, E-Mail: zentrale@kjh-josef.de.
Geduldig lässt die Patientin die kurze Prozedur über sich ergehen: „Sehen Sie, jetzt ist es wieder ganz klar. Das sah trotz Antibiotika-Spritzen und Salbe so infektiös weiß aus, dass wir dachten, es muss entfernt werden“, berichtet die tierliebe Mannheimerin: „Ich hatte schon den Tierarzttermin, da fiel plötzlich ein Krüstchen ab und darunter war alles so gut wie verheilt.“
Kurt und Wiebke dürfen jetzt wieder zurück in ihre Käfige und runter von dem Behandlungstisch. Der nimmt nicht nur einen großen Teil von Gabriele Popps Wohnzimmer ein. Vielmehr erinnert er mit dem fein säuberlich aufgereihten Arsenal an Spritzen, Fläschchen und Verbandsmaterial an eine professionelle Veterinärpraxis. „Ja, Hygiene und Sauberkeit sind oberstes Gebot“, räumt die Gründerin der Tierambulanz „Igelnest“ ein: „Sonst kann man keinem Tier helfen.“
Das wollen viele Menschen. Doch wenn sie einen stacheligen Vierbeiner in Not finden, dann sind sie meist überfordert und wenden sich an städtische Behörden: „Die informieren dann wiederum mich“, beschreibt die Igelnest-Chefin ihre Kooperation mit der Stadt.
Besuche in Schulen oder Kindergärten, Aufklärungsarbeit bei Vorträgen, Arzttermine: Im „wahren Leben“ ist Gabriele Popp eigentlich Marketing-Fachfrau, hält Seminare und arbeitet als Vertriebscoach. „Aber in meinem Kühlschrank sind die meisten Fächer mit Arzneimittel statt mit Käse gefüllt“, erzählt sie lachend, während Julyen noch einmal ohne Handschuhe seine Patienten streicheln darf.
Unvergessliche Begegnungen
„Solche Begegnungen sind für unsere Kinder meist unvergessliche Erlebnisse“, resümiert Heimleiterin Sabine Mall: „Das fördert einfach ihr Selbstbewusstsein und ihr soziales Sichtfeld.“ Die Fachfrau erzählt, dass Gabriele Popp vor fünf Jahren einer 13-Jährigen aus St. Josef einen Herzenswunsch mit einer Shopping-Tour erfüllt habe: „Die anderen werden regelmäßig von Verwandten zum Eisessen oder ins Kino mitgenommen. Aber dieses Mädchen hat nie Besuch bekommen. Deshalb war sie total glücklich über dieses Geschenk.“ Und sie habe den anderen Kindern, die sie bei der Heimkehr mit Fragen bestürmten, ganz stolz von ihrem Erlebnis erzählt.
Apropos Wiebke und Kurt - können die bald zu einem Ausflug aufbrechen? Da lacht die Igelflüstererin: „Na klar.“ Schon nächste Woche nimmt Gabriele Popps Mithelferin Tanja Kärcher die beiden Insektenfresser - die laut Bundesnaturschutzgesetz zu den besonders geschützten Tieren zählen und weder gefangen noch verletzt oder getötet werden dürfen - in einen Naturgarten mit: „Dort sind sie zunächst noch unter Beobachtung, aber das Gelände ist offen, sie können jederzeit raus.“ Natürlich ist Gabriele Popp schon so mancher Patient ans Herz gewachsen. Doch die Auswilderung sei stets das wichtigste Ziel: „Wenn ich die beiden wieder genesen in die freie Wildbahn entlassen kann - das ist für mich der schönste Moment.“
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