Geistliches Wort

Wo wohnst du?

Von 
Peter Wegener
Lesedauer: 

Es scheint so, dass die eigene Wohnung in diesen Pandemiezeiten eine wichtigere Rolle spielt als sonst. Viel wurde, so war immer wieder zu hören und zu lesen, seit dem ersten Lockdown ausgemistet, renoviert und neu möbliert. Wo die Möglichkeiten, unterwegs zu sein, so eingeschränkt sind wie in diesen Wochen, rücken die eigenen vier Wände offensichtlich mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Darüber hinaus ist für viele die Wohnung notgedrungen zum Büro und zum Lernort für die Kinder geworden.

Die eigene Wohnung, das eigene Haus sagen auch etwas aus über die, die dort wohnen. „Sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist“, könnte man in Abwandlung eines bekannten Spruches formulieren.

Die Frage „Wo wohnst du?“ begegnet uns auch in der Bibel. Sie steht im ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums, aus dem am morgigen Sonntag in den katholischen Gottesdiensten vorgelesen wird. „Meister, wo wohnst du?“ – anders übersetzt: „Wo ist deine Bleibe“ – fragen zwei junge Männer, als sie Jesus am Ufer des Jordan treffen. Dieser hatte sich dort tags zuvor taufen lassen. Die beiden wollen Jesus kennenlernen. Sie fragen ihn aber nicht: Wer bist du?, sondern: „Meister, wo ist deine Bleibe?“ Der lädt sie ein: „Kommt und seht!“

Einladung zum Kennenlernen

Der Autor des Johannes-Evangeliums lässt seine Leserinnen und Leser dann aber nicht an dem teilhaben, was sie dort erleben. Er berichtet nur von der Wirkung. Am nächsten Tag erzählen die beiden: Wir haben den Messias gefunden. Sie haben offensichtlich nicht nur herausgefunden, wo Jesus wohnt – im Lauf der Begegnung haben sie erfahren, wer dieser Jesus ist.

In der gegenwärtigen Phase mit den hohen Ansteckungszahlen können wir einander leider kaum in unsere Wohnungen einladen. Die Möglichkeiten zur Begegnung sind sehr eingeschränkt. Mit dem Digitalen haben wir zwar tolle Hilfsmittel, diese können aber auf Dauer leibhaftige Begegnungen nicht ersetzen.

Auch wenn er uns nichts von der Begegnung der beiden Männer mit Jesus und über den Ort, wo Jesus wohnt, berichtet, will der Evangelist Johannes uns diese Erfahrung nicht vorenthalten. Mit seinem Evangelium bietet er uns dazu ein „Hilfsmittel“ an. So ist die Einladung „Kommt und seht!“ auch die Einladung des Johannes an seine Leserinnen und Leser, Jesus kennenzulernen.

Wenn er die beiden Jünger fragen lässt „Meister, wo ist deine Bleibe“ und diese einen Tag lang bei Jesus bleiben, begegnet uns hier ein Wort, das später im Johannes-Evangelium noch eine zentrale Bedeutung hat: Bleiben.

In den Abschiedsreden am Ende des Evangeliums spricht Jesus sehr eindringlich davon, dass er in der Liebe seines Vaters bleibt, dass er in dieser Verbindung zuhause ist. Und Jesus lädt die, die ihn kennenlernen, ein, bei ihm zu bleiben, damit auch sie in der Liebe Gottes geborgen und zuhause sein können. Auch wenn wir nicht mehr Zeitgenossen Jesu sind und ihm in dieser Weise leibhaftig begegnen können, gilt seine Einladung heute uns.

Vielleicht ist die viele Zeit, die wir im Moment zuhause bleiben sollen, eine gute Gelegenheit, zur Bibel zu greifen und zum Beispiel im Johannes-Evangelium zu lesen, wer Jesus ist und wo er seine Bleibe hat. Eine lohnende Lektüre, wie ich finde.

Peter Wegener, Katholisches Dekanat Heidelberg-Weinheim

Freier Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen