Analphabetismus

Wie Mannheimer mit Rezepten das Lesen und Schreiben lernen

In Mannheim können rund 30.000 Menschen nicht oder nur ungenügend lesen oder schreiben. Das Grundbildungszentrum an der Abendakademie hat zum Weltalphabetisierungstag am 8. September ein besonderes Projekt verwirklicht

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Eva Baumgartner
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Als Analphabetismus bezeichnet man individuelle Defizite im Lesen oder Schreiben bis hin zum völligen Unvermögen. © Thomas Rittelmann

Mannheim. Im Kochbuch des Mannheimer Grundbildungszentrums der Abendakademie, das zum Weltalphabetisierungstag am 8. September veröffentlicht wird, steht auf Seite 20 ein Rezept für Spiegeleier. Dass Willi es mit diesem vermeintlich einfachen Rezept in ein Kochbuch schafft, mag den einen oder die andere aus der Leserschaft vielleicht verwundern. Doch es ist tatsächlich eine bemerkenswerte Leistung des Mannheimers, denn er kann als Analphabet lange nicht richtig lesen und schreiben.

Mogeln sich durchs Leben

Wie Willi ergeht es vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Grundbildungskurse. Viele mogeln sich durch ihr bisheriges Leben, haben Unterstützung von Familienangehörigen. So fällt es Jahre, manchmal auch Jahrzehnte nicht auf, dass sie schlecht und in manchen Fällen gar nicht lesen oder schreiben können. Viele schämen sich, das zuzugeben - auch in Mannheim: In der Quadratestadt leben, das schätzen Experten, rund 30 000 Analphabeten. Weil hier aber fast jeder Zweite einen Migrationshintergrund hat, könnten es noch viel mehr Betroffene sein.

Zentrum seit 2019

Die Abendakademie bietet bereits seit den 1970er Jahren Kurse im Bereich Grundbildung und Alphabetisierung an. Seit 2019 betreibt sie zudem ein Grundbildungszentrum, das vom Land gefördert wird: Es soll Menschen sensibilisieren und bildet zudem Kursleiterinnen und Kursleiter aus. Die Teilnehmenden „können ihre Schriftsprachkompetenz verbessern und damit ihre persönliche Lebenssituation und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten besser gestalten“, erklärt Susanne Deß, Geschäftsführerin der Abendakademie, im Kochbuch. Neben Lesen, Schreiben oder Rechnen würden auch der Umgang mit digitalen Medien oder Alltagskompetenzen in den Kursen trainiert. Ernährung sei in diesem Zusammenhang ebenfalls ein wichtiges Thema, denn ein bewusster Umgang mit Ernährungsfragen oder dem Kochen schaffe einfach „bessere Voraussetzungen dafür, wie man selbst gut für sich sorgen kann“, so Deß.

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Wie Helga Hufnagel vom Grundbildungszentrum berichtet, findet schon seit einigen Jahren der Kurs „Buchstäblich fit“ statt. Neben vielen Tipps zur gesunden Ernährung steht hier auch gemeinsames Kochen auf dem Programm: „Mehrere Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus unseren Lesen-und-Schreiben-Kursen besuchen regelmäßig diese Angebote zur gesundheitlichen Grundbildung“, so Helga Hufnagel. Diese Kurse sollen informieren und das Lesen trainieren: „Vor allem aber wird hier zur Freude unserer Lerner und Lernerinnen immer wieder gekocht“, berichtet Hufnagel.

Schnell ist den Leitenden der Kurse klar, dass viele etwas beitragen wollen - so sei die Idee entstanden, die Lieblingsrezepte in einem Kochbuch zusammenzufassen, das mit finanzieller Unterstützung des Landes nun gedruckt werden konnte. „Und in den letzten Wochen und Monaten ist ein schönes Kochbuch entstanden, das wir pünktlich zum Weltalphabetisierungstag vorstellen möchten“, kündigt Hufnagel an.

Häppchen und Gespräche

Am Weltalphabetisierungstag, der am 8. September stattfindet, werden einige der Kurs-Teilnehmenden ihre Lieblingsrezepte nachkochen. Wer sich von den Ergebnissen überzeugen will, kann mittags an der Abendakademie in U 1 vorbeischauen - dort gibt es dann nicht nur Häppchen, sondern auch viele Informationen zum Grundbildungszentrum und dessen Arbeit. Denn an diesem Tag möchte das Zentrum verstärkt über seine Arbeit aufklären und mit Menschen ins Gespräch kommen - vor und in der Abendakademie.

Das Kochbuch des Grundbildungszentrums gibt es an diesem Tag freilich auch. Und darin lassen sich übrigens nicht nur die einzelnen Rezepte, sondern auch die Lebenswelten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ihre Heimatländer, ablesen: Denn ob Amantina, die Reis mit Bohnen auftischt, Gülüstan mit gefüllten Weinblättern (Sarma), Sulay (frittierte Kochbananen mit Guacamole), Matthias (Käsespätzle) oder Enca, die Gazpacho liebt: Sie alle haben in den Grundbildungskursen gelernt, zu lesen und zu schreiben. Und sie alle haben es geschafft, ihr Rezept aufs Papier zu bringen. Gewiss: Mal ist die Beschreibung der Speisen länger - wie bei Kurts Zwiebelkuchen - und mal eben auch kurz und knapp - wie bei Willis Spiegeleiern. Doch erst mit dem nötigen Hintergrundwissen wird klar, wie schwer es für viele Menschen unter uns ist, ein Wort oder gar einen ganzen Satz zu Papier zu bringen.

Neue Kurse ab 7. September

Die Rezeptsammlung erscheint übrigens fast zeitgleich mit dem Semesterstart für die neuen Grundbildungskurse, die am 7. September beginnen. Ein Einstieg ist jedoch jederzeit möglich, nicht nur zum Semesterbeginn. Informationen zur Grundbildung und allen Angeboten sowie Kursen an der Abendakademie gibt es im Internet (www.abendakademie-mannheim.de). Wer Schriftsprach-Probleme hat oder für Menschen aus dem Umfeld Angebote zur Hilfe sucht, kann sich im Grundbildungszentrum der Abendakademie (U 1, 16-19) melden: bei Helga Hufnagel (Tel.: 0621/1076-185) oder Tanja Szymczak (Tel.: 0621/1076-187).

Redaktion Eva Baumgartner gehört zur Lokalredaktion Mannheim.

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