Mannheim. Er hat vor zwei Jahren sein letztes Glas Wodka getrunken: Jörg Speicher (Name von der Redaktion geändert) ist trockener Alkoholiker. Im Interview mit dem „Mannheimer Morgen“ spricht er von seiner Sucht, Selbsterkenntnis und dem Weg aus der Abhängigkeit.
Herr Speicher, wann haben Sie mit dem Trinken begonnen?
Jörg Speicher: Das fing im Studium und der Wehrdienstzeit an. Zu dieser Zeit wurde generell viel getrunken. Es gab natürlich Menschen, die es geschafft haben, einen guten Umgang mit so einem Suchtmittel zu finden. Aber ich habe den Alkohol genutzt, um meine Zurückhaltung zu kompensieren, die Hemmschwelle zu senken, bei geselligen Anlässen offener mit den Menschen umgehen zu können.
Woran haben Sie bemerkt, dass Sie zu viel trinken?
Speicher: Ich konnte die Mengen nicht kontrollieren und mit Alkohol generell einfach nicht gut umgehen. Die Folgen und die Schädlichkeit des Alkohols waren mir natürlich immer bekannt. Es war immer eine Art Drahtseilakt.
Alkohol ist in unserer Gesellschaft ja immer verfügbar.
Speicher: Ja, immer - und bis ins Berufsleben hinein. Bis zu einem gewissen Grad ist es ja auch schick, wenn man viel verträgt und noch geradeaus zur Tür hinauskommt. Die Grenze endet aber abrupt, wenn einer lallt oder stolpert. Das sind Erfahrungen, die ich in gewissen Stufen auch gemacht habe.
Weil Sie weniger vertragen haben als die anderen?
Speicher: Eher, weil ich es mengentechnisch nicht in der Hand hatte, mir einen Schlusspunkt zu setzen. Aus heutiger Sicht ist es für mich leichter zu sagen, dass ich den Alkohol nicht kontrollieren kann und deswegen nicht trinke. Es steht ja jedem frei, auch wieder rückfällig zu werden. Aber für mich ist das Risiko zu groß und die Gewissheit durch die Therapie, dass ich wirklich zu den Leuten gehören, die das nicht kontrollieren können.
Wie oft haben Sie zu den Anfangszeiten Ihrer Sucht getrunken?
Speicher: So drei Mal pro Woche, Anlässe gab es genug. Später war das bei mir so antrainiert, dass ich mein Verhalten nicht mehr geändert habe. Im Beruf habe ich den Alkohol genutzt, um Stress zu kompensieren. Dafür eignet sich Alkohol wunderbar, und das ist ja der Grund, warum Alkohol so beliebt ist: Weil es einfach leicht ist. Die Suchtentwicklung hat sich so über zehn Jahre hingezogen.
Ist Ihr Trinkverhalten gleich geblieben: Drei Mal pro Woche über die Stränge zu schlagen?
Speicher: Nein, am Schluss bin ich mit einem Flachmann in der Tasche rumgelaufen und habe eine Flasche Wodka am Tag getrunken, manchmal auch zwei. Es hat tatsächlich noch funktioniert, die Arbeit zu verrichten. Aber das ging mit einem großen Vertuschungsaufwand einher.
Hat Ihre Frau Sie zum Aufhören bewegt - oder war es Selbsterkenntnis?
Speicher: Ich konnte mit den klassischen Verstecktricks und dem erstaunlichen Funktionieren im Beruf meinen Konsum so weit vertuschen, dass sie zwar wusste, dass ich täglich Alkohol trinke, aber dachte, das wären vielleicht drei Bier oder so. Das war ein hoher Kraftaufwand und mit viel Leid verbunden.
Ist die Entspannung, die Sie sich vom Alkohol eigentlich gewünscht haben, durch den Stress, den das heimliche Trinken auslöste, nicht verpufft?
Speicher: Ja, ist sie. Aber es ging nicht mehr nur um Entspannung oder weil es schmeckt, es war schon eine körperliche Abhängigkeit. Das war eine veritable Sucht.
Wie sind Sie zur Suchtberatung bekommen?
Speicher: Ich bin nicht im Vollrausch ins ZI (Zentralinstitut für seelische Gesundheit, Anm. der Red.) gekommen, sondern das war eine bewusste Entscheidung. Ich habe gemerkt, dass es alles noch gerade so funktioniert auf der Arbeit, aber es war auf Messers Schneide. Es gab natürlich Konflikte mit meiner Ehefrau, und Freundschaften haben gelitten, wenn ich Dinge absagen musste, weil es mir nicht gut ging. Dann habe ich einen Autounfall gebaut, bei dem ich zwar wenig Alkohol im Blut hatte, aber das hat mir unheimlich Angst gemacht. Was man anderen Menschen antun kann, wenn man jemanden umfährt! Auch wenn ich noch gerade um diese Promillegrenze drumherum gekommen bin - ich selber kenne ja meine Geschichte.
War der Unfall das Schlüsselerlebnis?
Speicher: Es gab nicht den Punkt, ab dem ich gesagt, so, ab heute bist du Alkoholiker. Das ist mit so einem Leidensdruck verbunden, dass keiner sich freiwillig dazu entscheidet.
Niemand würde sich selbst gern als Alkoholiker bezeichnen.
Speicher: Es ist schmerzhaft, dass man jetzt dazugehört und stigmatisiert ist. Ich habe lange gebraucht, bis ich wie heute sagen kann, dass ich alkoholabhängig bin. Und dass es für mich kein Grund zur Traurigkeit ist, sondern nur eine Erkenntnis.
Und auch eine Chance?
Speicher: Ganz sicher. Ich habe mich in den Selbsthilfegruppen besser kennenlernen können, eben auch die Seiten, die ich mir gar nicht zugestanden habe. Es wird dort nicht permanent über Alkohol gesprochen, sondern über Alltäglichkeiten. Wenn mich vielleicht auf der Arbeit etwas verletzt, in der Ehe oder Familie etwas unausgesprochen ist - dann tut es sehr gut, dass man dort ein Podium hat und auch ein Feedback von den anderen bekommt. Nie von oben herab und nie belehrend. Das Teilen einer gemeinsamen Erfahrung ist dort wichtig und die Kraft zu bekommen, sich in der Abstinenz bestärkt zu sehen.
Hatten Sie eine Hemmschwelle, zur Selbsthilfegruppe zu gehen?
Speicher: Man muss keine Ängste haben, wie ich sie am Anfang hatte: In die Gruppe reinzugehen und sich zu fragen, ob da der Nachbar drin sitzt und ich doch lieber in die nächste Kneipe einbiegen soll. Ich habe in der Gruppe nur gute Erfahrungen gemacht.
Wie war es, mit dem Trinken aufzuhören?
Speicher: Das war anstrengend. Ich habe mir gesagt, entweder mache ich das jetzt oder das wird nie wieder was. Bei der Caritas wurde mir zum Glück sehr schnell geholfen. Parallel habe ich ein Abstinenzprogramm gemacht, bei dem Haarproben von mir genommen wurden und bei dem jeglicher Konsum lückenlos zurückverfolgt werden kann.
Ist das Abstinenzprogramm Standard, oder weil die körperliche Abhängigkeit so stark war?
Speicher: Das ist ein zusätzliches Modul, das ich freiwillig gemacht und selbst bezahlt habe, weil ich so perfektionistisch bin. (lacht)
Wie haben Sie es geschafft, trocken zu bleiben?
Speicher: Das ist am Anfang sehr schwer und ist mir dann immer leichter gefallen. Im Alltag, wenn es einem gut geht, würde ich sagen, ist es nicht so schwer. Aber wenn beruflicher oder privater Stress reinkommt, schon. Man muss Selbsterkenntnis gewinnen. Ich bin Alkoholiker, habe eine Schwäche, zu der ich stehe und möchte eine Veränderung: Seit das für mich klar war, ist es mir eigentlich recht leicht gefallen. Ich hatte in der ganzen Therapie keine Rückfälle, weil ich mit jedem Tag positive Erfahrungen gesammelt habe, dass es doch ohne Alkohol geht. Suchthilfe wirkt.
Hätten Sie es auch ohne Hilfe geschafft, vom Alkohol loszukommen?
Speicher: Nein, ich glaube nicht. Man liest ja immer mal wieder von Promis, die aus eigener Kraft vom Alkohol loskommen wollen. Da würde jeder aus einer Suchthilfegruppe den Kopf schütteln. Ein Suchtmittel funktioniert ja so, dass es immer wieder anklopft.
Gehen sie immer noch regelmäßig zu den Treffen der Gruppe?
Speicher: Ja, wenn ich es beruflich schaffe, versuche ich, jedes Mal dabei zu sein, auch wenn meine Therapie im April zu Ende gegangen ist. Es wird empfohlen, das lebenslang zu machen; das ist der Unterschied zu einer normalen Krankheit, bei der man wieder gesund wird. Ich bin in der Freitagabendsgruppe, da könnte man natürlich auch viel anderes machen. Ich möchte ehrlich zugeben, dass ich mich wirklich dazu aufzuraffen muss, wie zum Sport. Aber ich bin ja damit gescheitert, das nur mit mir auszumachen, und komme jedes Mal mit einem positiven Lebensgefühl von den Freitagstreffen. Wenn man das mit anderen Menschen teilen kann, ist es wirklich so: Geteiltes Leid ist halbes Leid.
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