Zeitzeuge - In der Stunde der Not baut Helmut Grafs Mutter im Luftschutzkeller mit fester Stimme Gottvertrauen auf / Als Kindersoldat in den Krieg geschickt

„Wenn die Erde bebt, hilft nur noch beten“

Von 
Susanne Räuchle
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Das Flächenbombardement in der Nacht vom 5. auf 6. September legte den Lindenhof in Schutt und Asche. Die Luftaufnahme entstand im Jahr 1945. © Marchivum/Privat

Die Wände im Luftschutzkeller in der Neckarstadt beben bei jedem Bombeneinschlag in der Nähe, und gewaltige Erschütterungen übertragen sich auf Notgemeinschaft im Untergrund. Das Zittern und Zähneklappern in der Nacht vom 5. auf 6. September 1943 will kein Ende nehmen. Dann geht auch noch das Licht aus, in den Staubwolken fällt das Atmen schwer, alle ringen nach Luft, allen sitzt die Todesangst im Nacken.

Wer in dieser Hölle sitzt, besinnt sich auf den Herrgott, fleht um Beistand und betet. Helmut Graf, der spätere Leiter des Sozialamtes, lernt damals als 14-jähriger die Menschen in ihrer Verzagtheit kennen, bei diesem schwersten Luftangriff auf Mannheim schlägt die Stunde der Wahrheit. Selbst stramme Parteigenossen verlieren jetzt mit schlotternden Knien den Glauben an Führer, Volk und Vaterland, der Mannesmut knickt ein, man sucht Heil bei höheren Mächten. Herr Kremer, ein älterer Nachbar, der mit Psalmen-singen und Fürbitte-leisten eigentlich so gar nichts am Hut hat, fordert Mutter Maria Graf auf, zu beten. Sie tut das. Mit lauter fester Stimme baut sie Gottvertrauen auf . . .

Als der Spuk zu Ende ist, die Sirenen um 2.16 Uhr Entwarnung geben und die Verängstigten ins Freie drängen, lodert überall das Entsetzen, Brände erhellen die Geisterkulisse, eine Qualmdecke legt sich wie ein Leichentuch über die Stadt. Mutter Graf hastet mit Helmut – Ministrant und Hitlerjunge – und dem ein Jahr jüngeren Heinz hoch aus dem Verlies in der Spelzenstraße 8. Das fünfgeschossige Haus mit den 14 Wohnungen steht noch. Vater Konrad ist wie immer oben geblieben, er hat das Heim behütet und bewacht, die Habe gegen die Bomber-Armada verteidigt. Eine Stabbrandbombe war schon durchs Dach geschlagen, die hat er gepackt und vom Treppenhausfenster raus geschleudert auf die Straße. Wie einen Helden bewundern die Söhne ihn fortan für diese rettende Aktion.

Das Nachbarhaus dagegen brennt lichterloh, eine Luftmine ist mit verheerender Wucht reingepfiffen, und diese zerstörerische Kraft lässt sich nicht mit Händen greifen, ihr ist man machtlos ausgeliefert. Alle stehen unter Schock, aber Helmut, der im jugendlichen Leichtsinn die Todesgefahren gar nicht erkennt, ist auf dem Sprung, nimmt seine Mission als Melder ernst, rennt rüber zum Polizeiposten in der Riedfeldstraße und zeigt die Zerstörungen gewissenhaft an. Für diese Mitarbeit gibt´s dann Lob und eine Ehrenurkunde vom Polizeipräsidenten. Brav gemacht. Für die Brüder ist am 18. Oktober 1943 das Luftschutzgerenne zu Ende. Mit der Kinderlandverschickung holt man „reichsweit“ die Jugend raus aus den Epizentren der Gefahr. Es geht ins Elsass und dann an den Titisee, weit weg von den Eltern, Sorgen lassen sich aus dem regen Briefverkehr herauslesen.

Die Mutter, in ihrer Glaubenfestigkeit bleibt ihrer Christenpflicht treu. Beim Einsatz als Rüstungsarbeiterin in den Motoren-Werken Mannheim steckt sie ausgezehrten Zwangsarbeiterinnen Essbares und Seife zu. Ein Verbrechen in den Augen des Nazi-Meisters, der ihr mit Strafe droht. Der Vater alarmiert die Söhne, und die bitten die Mutter per Post, vorsichtiger zu sein. Wie durch ein Wunder bleibt die streng gläubige Katholikin von einer Verhaftung verschont. Aber die Kriegsgeschichte der Grafens muss noch zu Ende erzählt werden. In den letzten Zuckungen der Kämpfe wird Helmut mit 15 Jahren eingezogen. Der Lagerleiter verabschiedet die sieggläubigen Kindersoldaten mit Schwulst: „Nun ziehet dahin und lebet wohl, kämpfet tapfer für das Vaterland und kehret gesund wieder.“

Am 20. April, Hitlers Geburtstag, wird das blutjunge „Panzervernichtungsregiment der Hitlerjugend Gebiet 21-Baden“ vereidigt. Alles ist in Auflösung, die versprengten Buben in Uniform verfranzen sich, geraten in französische Kriegsgefangenschaft. Bei ihren Bewachern löst die Kapitulation am 8. Mai einen Siegestaumel aus, Freudenschüsse über den Köpfen der Gefangenen befeuern Todesängste. Ein Alptraum aus Dreck, Schweiß und Blut folgt. In Lkw und Güterwaggons transportiert man die verhassten Verlierer nach Frankreich, und zum Empfang werden die Fünferkolonnen von einer entfesselten Menge mit Stöcken traktiert und Steinen beworfen.

Als Nummer 216.079 kommt der kahlgeschorene hoch aufgeschossene Helmut ins Lager, er landet auf einem Arme-Leute-Hof in Corrèze, mitten in Frankreich. Und hat noch Glück mit seinen Bauersleuten, den Dumas. Sie geben ihm zu essen, als eine Art Sohn wird der spindeldürre „petit boche“ angenommen. Er leidet Heimweh, eine kleine Ewigkeit lang. Erst am 21. Februar 1947, nach dreieinhalb Jahren, ist es soweit. Frei. Er geht zu Fuß über die Rheinbrücke, kommt nach Mitternacht daheim an. Die Gebete der Mutter sind erhört worden.

Verlorene Jahre? Nicht ganz, die harte Lektion hat den heute 89-Jährigen Helmut Graf alles gelehrt. Gut und Böse, Freud und Leid, aber auch Humor. Nichts Menschliches ist ihm fremd, nie hat er seinen christlich grundierten Weg verlassen, so kam er voran und war mit all seiner Kampferfahrung und Herzensbildung eine Idealbesetzung als Leiter des Sozialamtes.

NS-Diktatur und 2. Weltkrieg

  • Am 30. Januar 1933 ernennt Reichpräsident Paul von Hindenburg den Vorsitzenden der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, Adolf Hitler, zum Kanzler.
  • Mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg. Er endet in Europa mit der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945, Japan kapituliert im September 1945.
  • Die Nazis sind für die Ermordung von etwa 13 Millionen Menschen direkt verantwortlich (ohne Kriegshandlungen). Darunter fallen sechs Millionen Juden und mehr als 200 000 Sinti und Roma. (seko)
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