Fachmann ordnet ein

Video-Analyse des Mannheimer Marktplatz-Attentats

Vom Attentat auf dem Mannheimer Marktplatz am 31. Mai kursieren im Internet zwei Videos. Ein Fachmann hat die Aufnahmen für den "MM" analysiert. Er erklärt das Verhalten des Attentäters, der Polizisten - und von Rouven Laur

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Florian Karlein
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Kurz nach dem Messerangriff: Ermittler sichern die Spuren auf dem Mannheimer Marktplatz. © Uwe Anspach/dpa

Mannheim. Zwei Videos, viele Fragen. Zwei Aufnahmen des Messerattentats vom Freitag vergangener Woche auf dem Mannheimer Marktplatz kursieren in sozialen Medien - eine ist 51 Sekunden lang, eine sieben. Sie überschneiden sich zeitlich zum Teil, zeigen aber zwei verschiedenen Perspektiven. Ein Experte mit mehr als 40 Jahren Erfahrung im Polizeidienst hat die Videos für den „MM“ untersucht. Er sagt: „Dass es nicht mehr Tote gibt, ist verwunderlich.“ Eine Videoanalyse.

Sequenz 1: Auftritt des Attentäters auf dem Marktplatz

Der Fachmann, der anonym bleiben will, sagt, der Attentäter war im Rausch. Das sieht man zu Beginn des längeren ersten Videos, in dem Sulaiman A. zum ersten Mal auftaucht. Er kämpft sich an zwei Pax-Europa-Mitgliedern vorbei, verletzt einen von ihnen und zielt mit dem Messer in Richtung Kopf des anderen, um dann mit starrem Blick auf sein eigentliches Opfer loszugehen: Islamkritiker Michael Stürzenberger. Terroristen hätten wie Amokläufer einen Plan, der nach langer Vorbereitung umgesetzt werden soll, so der Experte. Dafür bräuchten sie einen klaren Kopf. „Aber wenn es dann losgeht, lassen sie sich von nichts mehr aufhalten“, erklärt er weiter. „Wer im Weg steht, wird zum Opfer.“

Sequenz 2: Es wird unübersichtlich auf dem Marktplatz

Nach dem Angriff auf Stürzenberger - den die Kamera nicht einfängt - wird die Szenerie unübersichtlich. Stürzenberger liegt auf dem Boden, tritt den Angreifer von sich weg, der ebenfalls auf dem Boden liegt. Daneben ist noch eine dritte Person auf dem Boden zu erkennen, eine vierte kommt dazu, wenige Augenblicke später auch ein Polizist. „Es sieht so aus, als fixiert die vierte Person den Attentäter am Boden, und der Polizist kommt, um zu unterstützen.“

Sequenz 3: Plötzlich vom Attentäter abgelassen

Aber warum weichen beide wenige Augenblicke später zurück? „Wahrscheinlich haben sie erkannt, dass der Angreifer mit einem Messer bewaffnet ist. So wäre ein Kampf lebensgefährlich gewesen.“ Dafür spreche, so der Experte weiter, dass der Polizist - es ist der spätere Schütze - umherstehende Menschen in seiner Nähe mit ausgebreiteten Armen zurückdrängt. Im Einsatztraining der Polizei würde die Gefahr von Menschen mit Messern immer wieder aufgezeigt. „Ein Messer ist die in der Öffentlichkeit am meisten unterschätzte Waffe“, erklärt der Fachmann. Mit einem Messerhieb könne ein Geübter gleich mehrere Opfer verletzen oder gar töten. In dem langen Video sieht es so aus, als ob der am Boden liegende Attentäter „in schneidender Bewegung in Richtung des Polizisten ausschlägt. Deswegen musste er zurückweichen.“

Sequenz 4: Der Attentäter rappelt sich auf

Als der unbekannte Vierte und der Polizist von Sulaiman A. ablassen, kann er aufstehen. Dabei schiebt er auch die Person von sich weg, die wenige Augenblicke vorher noch mit ihm und Stürzenberger verkeilt auf dem Boden lag. Offenbar verletzt der Angreifer den Mann sogar mit dem Messer im Bereich des Rückens oder der Schulter. Die umherstehenden Polizisten gehen einige Schritte zurück.

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Auch das aus Eigenschutz vor dem Messerangreifer, erklärt der Experte. Selbst ein paar Meter Abstand seien schon lebensgefährlich. Mit dieser Argumentation hatte die Staatsanwaltschaft zuletzt auch die tödlichen Polizeischüsse auf der Schönau als gerechtfertigt eingestuft. „Wer jetzt noch nicht verstanden hat, wie gefährlich ein Messer ist, verschließt die Augen davor“, so der Fachmann mit langjähriger Erfahrung. Man sehe auch, dass die Polizistinnen und Polizisten zu diesem Zeitpunkt die Hand an der Dienstwaffe haben, die aber noch im Holster steckt.

Sequenz 5: Rouven Laur springt in die Szenerie

Das kurze Video zeigt deutlich, wie ein Mann in blauer Jacke und weißer Hose brutal auf den Mann einprügelt, der mit dem Attentäter und Stürzenberger auf dem Boden liegt. Polizist Rouven Laur steht während des Tumults nicht in erster Reihe mit seinen Kollegen, sondern kommt von einigen Metern weiter hinten angesprintet und springt auf den Mann in der blauen Jacke, reißt ihn vom Opfer der Faustschläge runter. Wieso geht er aber nicht auf den Attentäter mit dem Messer? „Die erste Reaktion eines Polizisten ist: Wir wollen Gefahren abwehren und Straftaten beenden - das hat Rouven Laur hier getan“, sagt der Fachmann. „Die Schuldfrage, also wer Opfer und wer Täter ist, ist nachgelagert.“ Womöglich habe er trotz der „Messer weg“-Rufe nicht mitbekommen, dass eine Waffe im Spiel ist. „Dieser Einsatz von ihm war extrem mutig.“ Möglicherweise habe er den Prügelnden so auch vor dem Messerangreifer geschützt und ihm damit das Leben gerettet.

Sequenz 6: Noch kein Polizist hat die Waffe gezogen

Alle anderen Polizisten schauen in dieser Szene noch auf den Attentäter und nicht auf Laur. Nachdem der Attentäter die unbekannte Person weggeschoben hat, rennt er in Richtung des Polizisten. Von dessen Kollegen hat da noch keiner seine Waffe gezogen. „Zwar könnte man denken, dass es in diesem Moment die Chance gab zu schießen, weil drei Polizisten freie Schussbahn auf den Angreifer hatten. Aber dafür hätten die Polizisten die Waffe schon schussbereit und gezielt haben müssen - was aber unrealistisch ist aufgrund der gesamten Situation: Der Attentäter bewegt sich, und die Gefahr, Umherstehende mit zu verletzen, war groß.“ In den letzten Momenten der Szene ist zu erkennen, dass der spätere Schütze seine Dienstwaffe zu ziehen beginnt. Er ist Linkshänder.

Sequenz 7: Die Stiche und der Schuss

An einer Kollegin vorbei macht der spätere Schütze mit gezogener Waffe mehrere Schritte nach rechts, um freie Schussbahn auf den Attentäter zu bekommen. Doch diese Zeit reicht Sulaiman A. aus, um Rouven Laur die zwei Messerstiche zu versetzen. „Der Kollege hatte keine Chance, früher abzudrücken. Im Gegenteil: Es war mutig, in dieser extrem schwierigen Situation zu schießen. Trifft er den Attentäter nicht, hätte die Kugel einen Unbeteiligten auf dem Marktplatz treffen können.“ In den letzten Momenten ist zu erkennen, dass mindestens eine weitere Polizistin die Waffe auf den getroffenen Attentäter richtet.

Fazit: Haben die Polizisten Fehler gemacht?

Nach Einsätzen mit Todesopfern in den vergangenen Jahren musste die Mannheimer Polizei viel Kritik einstecken, weiß auch unser Fachmann. Die Videos des „tragischen Vorfalls“ am Marktplatz seien zumindest geeignet, um vor Augen zu führen, wie komplex, herausfordernd und schwierig solche Einsätze für die Beamtinnen und Beamten sind. Er kommt zu einem klaren Urteil: „In der Situation kann man auf keinen Fall Fehler unterstellen. Alles ist unübersichtlich und geht rasend schnell - das kann mit diesen Videos jeder sehen.“ Vom Auftritt des Attentäters bis zum Schuss dauert es gerade mal rund 25 Sekunden.

Redaktion Leiter des Redaktionsteams Mannheim

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