Überwindung gewinnt

Von 
Gerold Stein
Lesedauer: 

Wahrscheinlich kennen Sie die Situation: Sie stehen vor ihrem offenen Schrank. Sie blicken hinein und überlegen sich, was sie davon noch alles brauchen. Im Laufe der Jahre sammelt sich eine ganze Menge an. In einer Schublade meines Schrankes liegen meine alten Leichtathletikurkunden. Eigentlich könnte ich sie entsorgen, ich tue es aber nicht. Irgendetwas hält mich zurück. Vielleicht ist es die Hoffnung, diese Leistungen wieder einmal erreichen zu können, die mich hemmt, die Urkunden wegzuräumen?

So betrachtet können Erinnerungen etwas sehr Positives sein, wenn sie mir Kraft geben, Dinge wieder zu wagen, die ich lange Zeit vernachlässigte. Erinnerungen können auch zu einem Hemmschuh werden: wenn sie mich daran hindern anzuerkennen, dass ich einiges in meinem Leben nicht mehr erreichen werde, weil ich zum Beispiel körperlich mittlerweile nicht mehr so leistungsfähig bin. Wahrscheinlich ist es gerade diese innere Zerrissenheit, die mich hindert, meinen Schrank zu leeren. Spätestens wenn der Schrank voll ist, muss eine Entscheidung getroffen werden.

Loslassen

So wie es immer wieder einmal sinnvoll ist, den Inhalt seines Schrankes zu überprüfen, ist es sinnvoll, in sich selbst zu schauen und darüber nachzudenken, welche Vorstellungen, Träume und Hoffnungen mich beeinflussen. Ich sollte mich auch fragen, ob das, woran ich festhalte, auch noch wirklich festhaltenswert ist oder ob ich nicht einem Traumgebilde hinterher laufe, das ich niemals mehr erreichen werde. Wenn ich die ganze Zeit versuche, das Unerreichbare zu erreichen, mache ich mich selbst unglücklich. Spätestens dann sollte ich mich von diesem Traum verabschieden, denn er engt meine Handlungsmöglichkeiten ein. Natürlich ist es nicht leicht, Wünsche, Träume oder Hoffnungen, loszulassen. Jeder hat ein Bild von sich, wie er von anderen gesehen werden möchte und wie er sich selbst sieht. Dieses Bild aufzugeben fällt nicht leicht, da wir häufig glauben, wir seien nur liebenswert, wenn wir diesem Traumbild entsprächen.

Freisein

Um falsche Selbstbilder loslassen zu können, brauche ich das Vertrauen, dass ich akzeptiert bin. Nur wenn ich weiß, dass ich um meiner selbst willen geliebt werde, kann ich falsche Selbstbilder von mir selbst loslassen. Als Christen sind wir nicht allein. Gott gibt uns die Gewissheit, dass wir in seinen Augen liebenswert sind. Aus diesem Grund können wir falsche Selbstbilder von uns selbst aufgeben. Loslassen geht nicht von heute auf morgen. Es wird immer wieder Rückschläge geben. Um so wichtiger ist es, nicht zu resignieren, sondern den Weg im Vertrauen darauf zu gehen, dass Gott uns liebt.

Loslassen ist erst einmal ein Verlust, aber es ist auch die Chance für einen Neuanfang. Wer akzeptiert, dass er bestimmte Ziele nicht verwirklichen kann, der kann sich neuen Zielen zuwenden und so verborgene Fähigkeiten an sich entdecken und neue Kenntnisse erwerben. Wenn Sie möchten, nutzen Sie die verbleibende Woche der Passionszeit, um den eigenen Bildern nachzuspüren und zu überlegen, ob sie noch passend sind.

Nehmen Sie dabei den folgenden Satz mit in die kommende Woche: Des HERRN Augen schauen alle Lande, dass er stärke, die mit ganzem Herzen bei ihm sind (2. Chr 16,9).

Gerold Stein, Pfarrerim Schuldienst, Hemsbach

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen