Nachkriegsgeschichten (Teil 1) - Michael Timmermann erinnert sich an das Brot der frühen Jahre / Zum Schnorren zur Bäckerei Schnorr

Theaterkarte als Tauschwährung

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In der Richard-Wagner-Straße 31 wohnten nach dem Krieg vom Keller bis unters Dach nur Theaterleute, darunter Michael Timmermann mit Eltern und Oma.

© Proßwitz

Eines der ersten Theater, das nach Kriegsende den Spielbetrieb wieder aufnahm, war das Nationaltheater. In der "Schauburg", einem ehemaligen Kino in der Breiten Straße. Das Ehepaar Joachim Timmermann und Hanna Meyer waren mit die ersten Mitglieder in der "Schauburg". Ihr Sohn Michael Timmermann, selbst 37 Jahre lang auf der Bühne des Nationaltheaters gefeiert, war damals elf Jahre alt, und erinnert sich an die dramatischen, manchmal auch komödienhaften Tage des Wiederbeginns:

"In der fast zu 80 Prozent zerstörten Stadt mussten erst einmal Wohnungen für die aus allen Himmelsrichtungen kommenden Künstler gefunden werden. Aber wo? Da bot sich die Richard-Wagner-Straße 31 an. Eines der wenigen nicht beschädigten Häuser in der fast völlig zerbombten Straße.

In dieser Trümmerwüste wirkte das Haus, das die Stadt für Mitglieder des Nationaltheaters beschlagnahmt hatte, wie ein Märchenschloss. Und so bewohnten vom Keller bis zu den Mansarden Sänger, Schauspieler, Tänzer, Chormitglieder dieses Refugium.

Ältere Mannheimer werden sich noch an Namen wie Marx, Langheinz, Hölzlin, Riedy, Rippert und Heidi Kuhlmann erinnern. Und auch die Timmermanns in der Mansarde. Das Glück wieder Theaterspielen zu können machte das schwere Leben in dieser Zeit aber nicht einfacher. Aus allen Himmelsrichtungen strömten die Künstler zusammen und hatten keine Verwandten oder Bekannten in dieser Stadt oder Umgebung. Also auch keine Möglichkeiten an zusätzliche Lebensmittel zu kommen. Sprich ,Hamsterware'.

Sich nur von Lebensmittelmarken zu ernähren, war unendlich schwer, ja fast unmöglich. Denn der Theaterberuf erforderte auch damals ganzen Einsatz und volle Energie. Aber woher nehmen? Es gab zu dieser Zeit außer Lebens- und Genussmittel wie Butter, Zucker, Fleisch, Kaffee und Zigaretten nur eine Ware, die ebenso begehrt und rar war: Theaterkarten. Nur die langjährigen Abonnenten bekamen ihre Karten wieder. Ansonsten gab es lediglich sehr wenige Karten im freien Verkauf, in jener Zeit, in der man ins Theater mit einem Beutel Heizmaterial kam, mit etwas Holz oder vielleicht sogar Briketts. Um den Theaterleuten etwas Tauschbares in die Hand zu geben, kam dem Intendanten die glorreiche Idee, jedem, der in einer Vorstellung als Solist auftrat, eine Freikarte zu geben.

Konspirative Übergabe

Da meine Eltern in sehr vielen Vorstellungen auftraten, hatten wir auch etliche Freikarten. Mit diesen wurde ich als Elfjähriger zum Bäcker, Gemüsehändler oder Metzger geschickt. Die Übergabe folgte einer bestimmten Regie: Die Freikarten wurden in die Lebensmittelkarten gesteckt und so dem Bäcker oder wem auch immer übergeben.

Frau Schnorr, von der Bäckerei Schnorr in der Schwetzingerstraße, spielte mit, sie nahm die Lebensmittelkarte mit den versteckten Freikarten an und tat mit ihrer Schere so, als ob sie noch Marken für 2000 Gramm Brot abschneiden würde. Das übrige Publikum durfte von dem Theater natürlich nichts merken. Ähnlich lief es bei den anderen Geschäften.

Ahnungslose Oma

Besonders ,ertragreich' war es damals bei der Firma ,Motorrad Isslinger' in der Augartenstraße. Die hatten viel bäuerliche Verwandte im Odenwald. Ein einziges Mal kam ich von den Isslingers nur mit drei Möhren und einer Handvoll Kartoffeln für die vier Freikarten zurück, denn es war nur die alte ahnungslose Oma Isslinger da, die von den Tauschgeschäften nichts wusste. Das Gesicht von meiner Großmutter, die sich gerade darauf vorbereitet hatte, eine anständige Mahlzeit von den Mitbringseln zu kochen, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen!

Trotz des vielen Hungerns ist mir diese Zeit aber immer in abenteuerlicher Erinnerung geblieben. Und vor allem auch das Mannheimer Publikum mit seiner Liebe zu seinem Nationaltheater, die in dieser schweren Zeit besonders zum Ausdruck kam." (Bearbeitet von Susanne Räuchle.)

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