Mannheim. Die Oberzeller Franziskanerinnen haben das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim damit betraut, das Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in ihrem Verantwortungsbereich und den Umgang damit wissenschaftlich zu untersuchen. Das hat das Forschungsinstitut mitgeteilt.
Die Franziskanerinnen geben an, sie wollen mit dieser unabhängigen Studie Grundlage für das Aufarbeiten der eigenen Vergangenheit erhalten. Sie möchten „Verantwortung übernehmen und Betroffenen Gehör verschaffen.“ Gleichzeitig sollen die Ergebnisse zu besseren Schutzkonzepten und Präventionsmaßnahmen beitragen.
Zentraler Bestandteil der sogenannten MKF-Studie (Missbrauch durch Katholische Frauenkongregation) soll das Erheben der Erfahrungen von Betroffenen sowie von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sein.
In Mannheim gab es früher ein „St. Annaheim“. Dort waren laut der Archivunterlagen der Franziskanerinnen von 1938 bis 1978 Oberzeller Schwestern tätig, teilt Anja Mayer, Sprecherin der Oberzellern Franziskanerinnen mit.
Perspektive Betroffener zentral: Betroffene oder Kontakthaber können sich melden
Menschen, die als Kind, Jugendliche oder Erwachsene im Kontakt mit Mitgliedern der Kongregation der Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu standen, werden eingeladen, sich an der Studie zu beteiligen.
Betroffene sowie Menschen, die von Übergriffen gehört haben oder Informationen zum Umgang mit Verdachtsfällen haben, können ihre Erfahrungen in einem geschützten Rahmen mitteilen. Die Teilnahme erfolgt vertraulich und anonymisiert.
ZI-Wissenschaftler: Sexuelle Gewalt durch Frauen ein „blinder Fleck“
Die Oberzeller Schwestern waren in zahlreichen Heimen der Kinder- und Jugendhilfe tätig, darunter Einrichtungen in Zell, Würzburg, Hof, Kirchschönbach und München - und eben auch in Mannheim.
Studienkoordinator Harald Dreßing, Leiter der Forensischen Psychiatrie am ZI, sagt: „Das Ausmaß von sexualisierter Gewalt durch Frauen ist ein weitgehend blinder Fleck in der Forschung.“ Der Experte weiter: „Unsere Studie soll dazu beitragen, dieses wichtige Thema besser zu verstehen und effektive Präventionsmaßnahmen zu entwickeln.“
ZI-Forschungsteam: „Wissen, dass es schwer sein kann, zu sprechen“
Das Forschungsteam sei sich bewusst, dass es schwerfallen kann, über solche Erlebnisse zu sprechen, teilen die Forschenden mit. Daher entscheiden die Teilnehmenden selbst, was und wie viel sie berichten möchten. Alle Angaben werden streng vertraulich behandelt und anonymisiert.
Sexualisierte und andere Formen der Gewalt
- Unter sexualisierter Gewalt werden Handlungen mit sexuellem Bezug ohne Einwilligung beziehungsweise ohne Einwilligungsfähigkeit der Betroffenen verstanden. Damit umfasst sexualisierte Gewalt jegliche unerwünschte sexuelle Handlung und Grenzüberschreitung, bei der eine Person in ihrer sexuellen Selbstbestimmung und Unversehrtheit beeinträchtigt wird.
- „Auch wenn körperliche und psychische Gewalt insbesondere im Heimerziehungskontext vermutlich häufiger missbräuchlich eingesetzt worden sein dürften, werden diese Missbrauchsformen im Rahmen der Studie nicht untersucht“, so das ZI.
- Die Erfahrungen von Menschen, die körperliche oder auch psychische Gewalt durch Oberzeller Franziskanerinnen erlebt haben, können aber in begrenztem Maß in die Studie einfließen, wenn sie sich im Kontext sexualisierter Gewalt ereignet haben.
- Betroffene können sich zudem an die externen Missbrauchsbeauftragten der Kongregation wenden. Die Kontaktdaten finden sich unter: www.oberzell.de/aufarbeitung
Die Studie unterliegt den Regeln des wissenschaftlichen Datenschutzes und der Datenschutzgrundverordnung, betont das ZI. Interessierte können sich zunächst unverbindlich an das Forschungsteam wenden; jeder weitere Schritt erfolgt im individuellen Tempo und nur mit ausdrücklichem Einverständnis.
Ein bislang wenig erforschtes Thema
Sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche wurde bereits in mehreren wissenschaftlichen Studien untersucht. Eine in Deutschland wichtige Studie war die 2018 veröffentlichte MHG-Studie des ZI sowie der Universitäten Heidelberg und Gießen, die sich mit sexualisierter Gewalt durch männliche Geistliche befasste. Bisher blieben weibliche Ordensgemeinschaften und Frauen als potenzielle Täterinnen jedoch weitgehend unerforscht. Die MKF-Studie setzt hier an, um Wissenslücken zu schließen und Schutzkonzepte zu verbessern.
Das ZI erhielt nach eigenen Angaben den Auftrag zur Durchführung der Studie nach einem Ausschreibungsverfahren. Die Untersuchung erfolgt unabhängig und wissenschaftlich fundiert, teilt das Mannheimer Institut mit. Neben der Analyse von Personalakten werden Gespräche mit Betroffenen, Verantwortlichen sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt.
Generaloberin Katharina Ganz hebt hervor, dass die Oberzeller Franziskanerinnen Verantwortung übernehmen und das Leid der Betroffenen anerkennen wollen. „Wir möchten Licht in dieses potenzielle Dunkel der Vergangenheit bringen und den Menschen, die betroffen waren, Gehör verschaffen“, sagt sie.
„Sexuelle Gewalt gegen Kinder geschieht nicht unbeabsichtigt oder aus Versehen“
Ergebnisse der Studie sollen auch dazu beitragen, Kinder in Zukunft besser vor sexualisierter Gewalt und deren oft gravierenden gesundheitlichen Folgen zu schützen. Wissenschaftler Harald Dreßing hebt in diesem Zusammenhang auch den Mut und die Aufgeschlossenheit der Oberzeller Schwestern hervor, sich mit dieser Fragestellung auseinanderzusetzen.
Wie die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, allgemein zur Thematik betont, ist das Problem oft struktureller Natur, auch in der kleinsten Ebene, wo die sexuelle Gewalt beginnt: „Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geschieht nicht unbeabsichtigt oder aus Versehen. Mit mehr oder weniger bewusst reflektierten Strategien manipulieren Täter und Täterinnen häufig sowohl das Opfer als auch sein Umfeld.“
Kontakt für Betroffene und Zeitzeugen
Menschen, die bereit sind, ihre Erfahrungen zu teilen, können sich an das Forschungsteam des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit wenden. Ansprechpartner:
Andreas Hoell: andreas.hoell@zi-mannheim.de Leonie Scharmann: leonie.scharmann@zi-mannheim.de
Telefonischer Kontakt: 0621/1703 6402
Anonyme Meldungen sind möglich unter: www.zi-mannheim.de/mkf-studie
Weitere Informationen zu den Einrichtungen der Kongregation unter: www.oberzell.de/aufarbeitung
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