Erik Leuthäuser nahm jahrelang Drogen, um seinen Sex intensiver zu machen. Er hatte sogenannten Chemsex. Im Nachtleben Berlins ging alles gut. Bis zum Jahr 2020, als die Corona-Krise ihm den Boden unter den Füßen wegriss. Der Jazzmusiker dachte, bis dahin seinen Konsum „im Griff zu haben“. Er konsumierte nur am Wochenende, blieb längere Zeiträume ohne Drogen, wenn er es sich verbot. Er nahm die Drogen, um „Sex intensiver zu machen“, sagt er. Ecstasy, Kokain, Mephedron.
„Ich mag Sex, und Sex ist ein Teil von mir. Sex ist mein Hobby, ich wollte immer entdecken, Sex ist Entdecken, und so bin ich auch zu Chemsex gekommen“, sagt der 26-Jährige. Mit der Coronakrise aber kamen für den Künstler massive finanzielle Probleme und Existenzängste, schließlich auch Depressionen. Angesichts dieser Lage griff Leuthäuser zu Crystal Meth – auch beim Sex, was ihn noch mehr enthemmte und risikofreudiger machte. Noch stärker, noch betäubender – kompensierte er so seine Probleme. Und wurde abhängig. Ängste, Antriebsstörungen, immer heftigeres „Runterkommen von der Droge“ nach dem Konsum kam auf. „Und am Ende konnte ich ohne Drogen keinen Sex mehr haben“, so Leuthäuser. Typisch für Chemsex-Nutzer, denn in ihrem Hirn verbinden sich die Zentren für Droge und Lust auf fatale Weise. So berichten manche User: Wenn sie jemanden Attraktiven auf der Straße sahen, mussten sie sofort zur Droge greifen.
In vielen deutschen Großstädten gibt es Menschen wie Leuthäuser. Was treibt sie an, sich der Chemsex-Szene, die insbesondere in der schwulen Community ausgeprägt ist, hinzugeben? Neben vielen Gründen ist es die sogenannte internalisierte Homophobie der Gesellschaft, die insgeheim schwulen Sex abwertet, stigmatisiert und als dreckig und ekelhaft bezeichnet. Sie spielt eine große Rolle, warum Männer Teil der Szene werden, die ihre Gesundheit gefährdet, das zeigen zahlreiche Studien. Zuletzt eine Publikation im British Medical Journal. Dort heißt es, dass schwule Männer Chemsex nutzen, um negative Gefühle „wie fehlendes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl sowie internalisierte Homophobie“ zu verarbeiten.
Chemsex „nur Spitze des Eisbergs“
Dem kann Leuthäuser voll zustimmen: „Ich meine, wie krass ,Anti’, wie viel radikaler kannst du denn sein, als dass du tagelang auf Drogen Sex hast“, sagt er. Es sei auch bei ihm die Einstellung „Fuck you!“ gegenüber einer eigentlich Schwulen hassenden Gesellschaft gewesen. Und die Scham vor seiner eigenen Sexualität, die ihn motivierte, erzählt er. Auch das gesellschaftliche Stigma über den HIV-Status spiele oft eine Rolle, warum etwa HIV-positive Männer exzessiv Chemsex nutzten, so derweil die Forscher.
Philip Gerber vom hiesigen Drogenverein weiß: „Substanzkonsum beim Sex ist in unserer Gesellschaft verbreiteter als viele denken.“ Chemsex, wie Leuthäuser ihn praktizierte, sei nur die „Spitze des Eisbergs“. Ein „Sekt zum Date“ oder „Kokain für eine bessere Erektion“ – das seien die Dinge, die im Alltag häufig seien. Eher beiläufig kämen solche Suchtthemen in der Drogenverein-Beratung auf, so Gerber. Denn sie seien mit Scham behaftet, stigmatisiert. Und wie oft kommen Chemsex-Betroffene zur Beratung beim Drogenverein? Gerber sagt, man habe eher wenig Berührungspunkte. Die Subkultur spiele sich in einer geschlossenen Szene ab. Doch man wolle in Zukunft auch hier Leute erreichen. Gerber etwa spricht sich für eine medizinische Ambulanz zum Thema in der Region aus. Viele Wissenschaftler fordern solche Einrichtungen seit langem – der Bedarf an spezieller Behandlung im Spannungsfeld von Sex und Sucht sei groß.
Tschüss Schmerz und Hemmung, hallo Infektion
Öffentlichkeit für das Tabu-Thema will der Drogenverein indes durch ein Fachsymposium in der Mannheimer Hochschule (siehe Infobox) schaffen. Gemeinsam mit der Beratungsstelle für Sexuelle Gesundheit, KOSI.MA wird mit Workshops aufgeklärt. „Das ist notwendig, da durch die Verbindung von Substanzkonsum und Sexualität auch gesundheitliche Risiken existieren“, die teilweise von Konsumenten unterschätzt werden, sagt Marc Fischer, Geschäftsführer von KOSI.MA. Bei Überdosierung von etwa Ketamin besteht die Gefahr eines Herzstillstands. Bei ungeschütztem Sex etwa für HIV oder Hepatitis C.
Leuthäuser sagt derweil: „Ich bin für einen freiheitlichen Konsum. Jeder kann machen, was er will, für jeden ist etwas Anderes gut.“ Dennoch: Er findet, es gibt viel zu wenig Beratung und Hilfe zum Thema Chemsex. Ob zu „Sicherer Gebrauch von Drogen“ oder für Leute, die aussteigen wollen. In Berlin seien Anlaufstellen hoffnungslos überlaufen, berichtet er. Jetzt versucht er, seine Sexualität „sober“, also frei von Drogen, zu leben. Er will in Zukunft „Kapitän seines Schiffes“ sein, besucht eine Therapie. Durch ein Selbsthilfeprogramm konnte er nun schon länger abstinent sein. Und das soll auch vorerst so bleiben, sagt er. Als Jazzer hat er seine emotionalen Erfahrungen in seiner Musik verarbeitet. Jetzt spielt er sie hier in Mannheim beim Symposium - und kann so vielleicht manch einen warnen.
Symposium am 18. Mai im Livestream
Mit ihrem am 18. Mai von 10 bis 16 Uhr in der Hochschule Mannheim stattfindenden Fachsymposium wollen Drogenverein und KOSI.MA (Zentrum für sexuelle Gesundheit Mannheim) das Thema „Drogen und Sexualität“ aus dem Dunkel ins gesellschaftliche Bewusstsein bringen. Statt findet alles in der Paul-Wittsack-Straße 10 in Haus C.
Zudem wird die Veranstaltung per Zoom übertragen, Link https://bit.ly/3ww8sw7, Meeting-ID: 894 8767 2567 Kenncode: 924200, Schnelleinwahl Mobil +496950500952
Auch das Thema Chemsex steht im Fokus. Mit Chemsex ist (meist stundenlanger) Sex unter dem Einfluss psychoaktiver Substanzen gemeint wie etwa Kokain, Ketamin, Marihuana, Liquid Ecstasy (GHB), Ecstasy (MDA oder MDMA) oder Crystal Meth (in Szenekreisen oft als „Tante Tina“ bezeichnet).
Beim Symposium gibt es Vorträge und Workshops. Etwa zum Thema „Sichere Party, Gefahren-Reduktion auf Partys“, „Sex and Drugs – Ein Überblick“ oder „Lasst uns über Sexualität reden! Erkennen und Kommunizieren von persönlichen Grenzen im Beratungssetting“. Teilnehmer-Beitrag für die Workshops: 20 Euro, vor Ort zu entrichten. see/mit dpa
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