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Seit 26 Jahren im Einsatz für Frauenrechte und Bildung in türkischen Gemeinden

Seit 26 Jahren will der Atatürk-Verein in Mannheim den interkulturellen Dialog fördern und in türkischen Gemeinden der Region Werte wie Bildungsgerechtigkeit und Gleichstellung stärken

Von 
Ilgin Seren Evisen
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Wie viele andere Mitglieder aktiv im Atatürk-Verein: Serdar Derikesen (v.l.), Nil Cikik Merz, Fatma Teyze, Birsen Cikik und Senel Teyze. © Ilgin Seren Evisen

Mannheim. Die türkische Sprache kennt viele Bezeichnungen für Menschen, die als Mitglieder der Familie gelten, weil sie so vertraut sind. Das türkische „Teyze“ - Tante mütterlicherseits - wird etwa für ältere Frauen benutzt, die Jüngere kritisieren, ihnen Ratschläge geben dürfen, die bei Fragen rund um Kindererziehung und die traditionelle Küche jederzeit gefragt werden dürfen. Eine „Teyze“ ist wie eine zweite Mutter, lautet ein türkisches Sprichwort. Der Verein zur Förderung des Gedankenguts von Atatürk, wie der Atatürk-Verein seit seiner Gründung 1997 offiziell heißt, gilt als Ort, an dem jüngere Menschen bei Fragen und Problemen Hilfe bekommen, ein Ort, an dem die Gleichstellung der Frau von besonderer Bedeutung ist und Bildung hohen Stellenwert genießt. Er gilt zudem als Ort, an dem „Teyzes“ das Vereinsleben gestalten und ein familiäres sowie solidarisches Miteinander geschaffen haben.

Unterschiedlichster herkunft

„Unsere Teyzes sind Bombe“, sagen Jüngere über die starke Präsenz der älteren Frauen im Verein. Die Mitglieder setzen sich aus türkischen Migranten verschiedener Einwanderungswellen zusammen: Arbeitsmigranten der ersten Generation und ihre Kinder sowie ihre Enkel und zuletzt hochqualifizierte Fachkräfte, die im Zuge des Brain-Drain in den letzten Jahren aus der Türkei nach Deutschland ziehen. Sie alle eint, trotz unterschiedlicher Bildungsbiografien sowie Altersunterschiede, das Bekenntnis zu kemalistischen Prinzipien wie Laizismus, die Leidenschaft für Kunst und Kultur und eine rege Diskussionskultur, die sich in der Vielfalt politischer Ausrichtungen im Verein zeigt.

Vereinsmitglied Serdar Derikesen arbeitet als Maschinenbauingenieur und lebt gemeinsam mit seiner Ehefrau Esra Kunt Derikesen und ihren Kindern seit 2012 in der Region: „Für uns Türken aus der Brain-Drain-Generation war die erste Anlaufstelle in Mannheim der Atatürk-Verein, hier bekamen wir Hilfe und Unterstützung, um uns in einer uns noch unbekannten Stadt zurechtzufinden.“ Gemeinsam mit anderen Aktiven organisieren er und seine Frau die zahlreichen Feste, die im Verein gefeiert werden: türkisches Fastenbrechen, Weihnachten, Ostern aber auch den Buchclub sowie Vorträge, bei denen Dozenten und bekannte Journalisten oder auch Sozialwissenschaftler aus der Türkei eingeflogen werden. Die Liste der Aktivitäten ist lang und soll die kulturellen und freizeitlichen Interessen der Mitglieder abdecken. Wer möchte, kann sich einbringen.

Auch deutsche Nachbarn, denen der Verein aus den L-Quadraten inzwischen bekannt ist, haben sich im Laufe der Jahre durch Angebote wie Sprachkurse oder Yoga-Kurse im Verein engagiert. „Bei uns ist für jeden etwas dabei“, sagt die 46-jährige Nil Cikik-Merz. Die studierte Theaterpädagogin arbeitet an einer Mannheimer Grundschule als Lehrerin und spielt ehrenamtlich in Theatergruppen der Region mit. Nicht wenige Mitglieder wie Cikik-Merz sind seit frühester Kindheit beim Verein dabei, einige von ihnen haben binational geheiratet und bringen ihre italienischen Ehemänner oder auch deutschen Ehefrauen zu den Aktivitäten mit.

Die Gründung des Vereins verdanken die Mitglieder „Nazike Teyze“, Nazike Chilamidis, einer armenischen Türkin aus Istanbul. Senel Teyze, inzwischen 70 Jahre alt, erinnert sich an einen Wintertag, als sich mehrere türkische Gastarbeiterfrauen und Lehrpersonal, das die Regierung für türkischsprachigen Unterricht nach Deutschland entsandt hatte, in Nazike Teyzes Wohnung zusammenfanden und die Weichen für die ein Jahr später erfolgte Gründung des Vereins setzten.

„Ich feiere hier bald mein 50-jähriges Mannheim Jubiläum. Seit 50 Jahren lebe ich hier und das als emanzipierte, unabhängige Frau. So habe ich es meinen Kindern vorgelebt und so sollen es meine Enkelinnen durch den Atatürk Verein ebenfalls lernen. Wir Frauen sind stark und unabhängig, auch weil Atatürk uns dies durch das Frauenwahlrecht und die rechtliche Gleichstellung der Frau dies ermöglicht hat“, erklärt Senel Teyze ihre Motivation für ihr Engagement im Verein.

Warnung vor Frauenfeindlichkeit

Auch Nurhayat Teyze war bei der Gründung dabei und denkt noch lange nicht an den Rückzug aus dem Verein: „Ich bin 67, schon in Rente. Aber ich habe gar nicht vor, alt zu werden. Daher bin ich im Buchclub, wo wir abwechselnd türkische und deutsche Romane lesen, so halte ich mich jung.“ So wie andere Mitglieder des Vereins wünscht sie sich von jungen türkischstämmigen Frauen ein stärkeres Einstehen für Frauenrechte, für Bildung und individuelle Freiheit - eben das, wofür die türkische Politik bis zu Erdogans Machtergreifung mehrheitlich stand.

Nil Cikik-Merz Vater ist trotz seines Ablebens vor einigen Jahren noch immer ein wichtiger Ratgeber für die Jüngeren. Der in den 1960er Jahren als Arbeitsmigrant nach Mannheim zugezogene Nizar Amca warnte jüngere Frauen eindringlich vor frauenfeindlichen Bewegungen in der Türkei und unter Arbeitsmigranten in Deutschland. Der Platz der Frau sei nicht am heimischen Herd, sondern dort, wo sie es sich wünsche. „Deutschland hat mir viel gegeben und nichts genommen, ich habe viel gelernt. Und so möchte ich das auch für junge Frauen, gebt ihnen viel, alles was sie möchten, aber nehmt ihnen nicht ihre Freiheit“, erinnert sich seine Ehefrau, Birsen Teyze, an die Worte ihres Mannes,

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