Rechtsprechung

Prothesen, Drogen, Unfälle - Urteile des Mannheimer Sozialgerichts

Die Prozesse vor dem Mannheimer Sozialgericht finden zwar häufig nichtöffentlich statt. Sie zeigen aber die Vielfalt des Lebens. Wir haben eine Reihe von Entscheidungen der letzten zwölf Monate zusammengestellt.

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
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Die Fälle, die vor dem Sozialgericht in P 6, 20-21, verhandelt werden, lassen Schicksale aufblitzen. © Thomas Tröster

Mannheim. Anders als bei Gerichten mit Strafverfahren werden im Sozialgericht selten Prozesse von Publikum verfolgt. Dabei spiegeln sie die Vielfalt des Lebens und lassen Schicksale aufblitzen. Für diese Redaktion hat Richter und Pressesprecher Alexander Angermaier Entscheidungen unterschiedlicher Rechtsgebiete zusammengestellt.

Die Auswahl beginnt mit einem brandaktuellen, am 12. Juli von der Kammer 1 - Vorsitzender Richter Jörg Herth, Präsident des Sozialgerichts - gefälltem Urteil. Tenor: Ein ums Doppelte verlängerter Heimweg von der Arbeit kostet den Unfallversicherungsschutz.

Folgenschwere Wegstrecke

Ein Restaurant-Mitarbeiter, der zwischen Mittag- und Abendschicht zur Wohnung in einer Umlandgemeinde fuhr, wich von der direkten Strecke ab - um Staus zu vermeiden, so die spätere Argumentation. Die veränderte Route sollte zum Schicksal werden. An einem Feldweg übersah der Mittdreißiger ein herausradelndes Mädchen. Die Elfjährige erlitt bei dem Zusammenprall mit dem Auto tödliche Verletzungen.

Der Mann, der vom Amtsgericht wegen fahrlässiger Tötung freigesprochen wurde, klagte gegen die Berufsgenossenschaft: Die lehnte ab, die folgenschwere Kollision als Arbeitsunfall einzustufen. Das Sozialgericht, das die damalige Verkehrssituation ausleuchtete, sah ebenfalls keinen nachvollziehbaren Grund für die gewählte, doppelt so lange Fahrstrecke und wies die Klage ab. Zwar müsse der Weg zwischen Arbeitsstätte und Wohnung nicht zwingend der kürzeste, aber gleichwohl unmittelbar sein.

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Drohende Sturzgefahr

Für eine spezielle Badeprothese kämpfte eine 49-Jährige - seit ihrer Kindheit am rechten Oberschenkel amputiert. Sie hatte eine wasserfeste Prothese mit beweglichem Kniegelenk beantragt. Die Kosten dafür betrugen 17 000 Euro. Mit dem Hinweis, die Frau müsse in Schwimmanlagen nur kurze Strecken bewältigen, hielt die Krankenkasse eine deutlich preiswertere Ausführung mit gesperrtem Kniegelenk für ausreichend. Die Klägerin fürchtete, damit hinzufallen - da sie mit ihrer Alltagsprothese physiologisches Gehen gewohnt ist.

Zwei Sachverständige unterstrichen das Sturzrisiko, zumal in nasser Umgebung. Außerdem könnte der kurze Beinstumpf der Frau nach einem eventuellen Bruch möglicherweise nicht mehr prothetisch versorgt werden. Das Sozialgericht sprach ihr eine Badeprothese mit beweglichem Kniegelenk zu (rechtskräftiges Urteil 11. Oktober 2021, Aktenzeichen S 16 KR 303/20).

Störende Hautlappen

Nach einer Magenverkleinerung zwecks Gewichtsreduktion bestehe kein genereller Anspruch auf das Entfernen von Hautüberschüssen - im konkreten Fall am Gesäß. So urteilten die Mannheimer Sozialrichter.

Eine Mittfünfzigerin hatte 65 Kilogramm verloren, was zu einer enormen Faltenbildung führte. Ihre Kasse gewährte zwar Straffungsoperationen - aber beschränkt auf Arme, Bauch und Beine. Die Klägerin führte aus, sie fühle sich beim Sitzen instabil. Außerdem würden sich Hautlappen einklemmen. Die Kammer vertrat die Meinung, dass damit kein „Krankheitswert“ verbunden sei - zumal sich weder Entzündungen noch Pilzbefall entwickelt hätten (Gerichtsbescheid 7. Juni 2022, AZ: S 19 KR 971/20, Berufungsfrist läuft noch).

Droge als Medizin

Cannabis-Arzneimittel dürfen nach ärztlicher Verordnung medizinisch eingesetzt werden. Gesetzliche Versicherungen zahlen aber nur, wenn es sich um eine schwerwiegende Krankheit handelt und Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind.

Ein 39-Jähriger mit Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) und massiven Stimmungsschwankungen wollte Cannabisblüten als Kassenleistung. Seine Klage scheiterte auch deshalb, weil der ADHS-Patient eine medikamentöse Behandlung nach Nebenwirkungen abgebrochen und weder eine veränderte Dosierung noch andere Wirkstoffe erprobt hatte (rechtskräftiger Gerichtsbescheid 19. Oktober 2021, S 19 KR 143/21).

Vielfältiges Ansteckungsrisiko

Die Infektion mit dem Sars-CoV-2-Virus ist kein Arbeitsunfall: So entschied das Sozialgericht in einem Verfahren zwischen einer Einzelhandelskauffrau und der Berufsgenossenschaft.

Die Mitarbeiterin eines Discounters lebt zwar ländlich abgeschieden, vermochte aber nicht schlüssig darzulegen, dass ihre Corona-Ansteckung zwingend im Job erfolgt war. Die Richter gaben zu bedenken, dass die Mittdreißigerin auch jenseits ihres versicherten Arbeitsplatzes „privatnützige Verrichtungen“ mit einem gewissen Infektionsrisiko ausgeübt hatte (rechtskräftiges Urteil 30. März 2022, S 12 U 1599/21).

Geld fürs Gassi-Gehen

Wenn ein Pflegebedürftiger nicht in der Lage ist, seinen Hund auszuführen, ist die Pflegekasse keineswegs verpflichtet, das von einem Tierbetreuer übernommene Gassi-Gehen zu finanzieren. Der Kläger mit Leistungen nach Pflegegrad zwei wollte erreichen, dass ihm jene 100 Euro erstattet werden, die er dafür monatlich aufwendet. Die Pflegekasse lehnte es ab, Hund-Ausführen als „haushaltsnahe Dienstleistung“ zu akzeptieren. Zudem hatte die beauftragte Tierbetreuer-Agentur eine solche Anerkennung gar nicht beantragt. Das Sozialgericht wies die Klage ab - ebenso wie das Landesarbeitsgericht (Urteil 19. November 2021 - L 4 P 2161/21).

Teure Weiterbildung

Vergleiche gibt es auch in sozialgerichtlichen Prozessen: Die Arbeitsagentur hatte eine Weiterbildungsmaßnahme in Berlin bewilligt - allerdings per Videoschalte. Der Mann auf Stellensuche nahm die Schulung rund um „systemisch-integrative Einzel- und Familientherapie“ allerdings vor Ort wahr und wollte 3000 Euro für Fahrt und Übernachtung zurückerstattet haben. Im Prozess machte der Kläger geltend, dass Weiterbildung in Psychotherapie persönlichen Austausch erfordere. Außerdem sei ihm kein vergleichbares Präsenzangebot im Tagespendelbereich angeboten worden. Nach Anhörung der zuständigen Jobvermittlerin einigten sich die Parteien, dass die Arbeitsagentur 1500 Euro übernimmt (Vergleich 27. April 2022, S 12 AL 2769/21).

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