Ludwig-Frank-Gymnasium

"Philosophisches Café" in Mannheim: Wie entsteht Antisemitismus?

Was bedeutet es, in Deutschland Jude zu sein? Um Fragen wie diese ging es beim Besuch des Heidelberger Gemeinderabbiners Jona David Pawelczyk-Kissin am Mannheimer Ludwig-Frank-Gymnasium. Ein etwas anderer Unterricht

Von 
Emma-Luise Hartlieb
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Im „Philosophischen Café“ (v.l.): Ben Steinbrenner, Jona David Pawelczyk-Kissin und Mikhail Aronikov © Emma-Luise Hartlieb

Mannheim. Das erneute Aufkommen von Antisemitismus in Deutschland „das spüren wir“, meint Jona David Pawelczyk-Kissin. Als Rabbiner der jüdischen Kultusgemeinde Heidelberg hält er am Ludwig-Frank-Gymnasium einen Vortrag über Judenfeindlichkeit. Kurz zuvor füllt sich die Bibliothek der Schule mit zwei zehnten Klassen. So groß ist der Andrang zum schulischen Format „Philosophisches Café“. „Das ist schon ein ziemliches Alleinstellungsmerkmal hier“, so schätzt Ben Steinbrenner, Studiendirektor und Koordinator der Gesellschaftswissenschaften, das Format ein.

Dieser schulische Austausch mit wechselnden Gästen, die seit 2019 das Mannheimer Gymnasium besuchen, dient „fast wie die Agora der Diskussion“, so Steinbrenner. Die Agora, das war der Begegnungsort in den Städten des antiken Griechenlands. Auf dem Fest- und Marktplatz trafen sich die freien Bürger Griechenlands, tauschten ihr Wissen untereinander aus. Diese Plätze waren ein bedeutendes Zentrum einer jeden antiken griechischen Stadt, natürlich auch in Athen.

Schlüsselthema: Juden und Jüdinnen in Deutschland

Verantwortlich für die Aufklärungsarbeit ist Mikhail Aronikov. Der Russisch-, Deutsch- und Ethik- Lehrer des Ludwig-Frank-Gymnasiums gilt als Organisator des „Philosophischen Cafés“. Durch Workshops, Seminare und Vorträge werden hier Themen von heute in der Gesellschaft von morgen diskutiert: in der Schulgemeinde. „Wir beantworten Fragen der Schülerinnen und Schüler. Das ist unsere Verantwortung. Natürlich haben sie Fragen zur aktuellen politischen Situation.“

Für die Beantwortung dieser Fragen hat die Schule an diesem Vormittag Pawelczyk-Kissin geladen. In seiner Eröffnungsrede stellt er klar: Fremdenfeindlichkeit entsteht in jedem Winkel der Gesellschaft.

Sein einstündiger Vortrag enthält Einblicke in das heutige Judesein. Das Schlüsselthema: das Leben der Juden und Jüdinnen in Deutschland. Bewusst nutzt Pawelczyk-Kissin Zahlen und Fakten, um die im historischen Vergleich heute verschwindend geringe Zahl jüdischer Gemeindemitglieder in Deutschland zu verdeutlichen. In Heidelberg zähle man 385 Mitglieder, ungefähr 100 weitere stammen aus der Ukraine. Die Jüdische Gemeinde Mannheim zählt laut dem Zentralrat der Juden in Deutschland hingegen 454 Mitglieder.

Fremdenfeindlichkeit komme nicht nur von rechts

Auch die Begriffsgeschichte wird diskutiert. „Antisemitismus“ sei als Wortgebilde im späten 19. Jahrhundert geprägt worden, so der Redner. Die Wortneuschöpfung verwissenschaftlicht den Begriff Judenhass. Ab dieser Zeit ging es nicht mehr nur um die extreme Ablehnung des Judentums als Religion, sondern auch um die Interpretation des Judentums als Volk und in der Folge als ein „minderwertiges Volk“. Der nationale Gedanke und das Ab- oder Aufwerten gewisser Länder und deren Bevölkerung war ohnehin ein gesellschaftliches Merkmal im ausgehenden 18. und im folgenden 19. Jahrhundert. So viel zur Begrifflichkeit.

Gespannt hören die Zehntklässler des LFG dem Rabbi zu, der selbst an Gymnasien der Metropolregion unterrichtet. „Wie entsteht Rassismus? Wie entsteht Menschenfeindlichkeit?“, fragt er in den Raum. Eine Schülerin antwortet: „Durch verfestigte Vorurteile gegenüber anderen.“

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Pawelczyk-Kissin fasst zusammen, dass durch Vorurteile ein vorschnelles Urteil über das Gegenüber gebildet wird. Fremdenfeindlichkeit komme nicht nur von rechts, stellt der Gemeinderabbiner der mittelgroßen badischen jüdischen Gemeinde klar. Auch unterbewusst konnotieren, definieren und verurteilen wir „das Andere“ oder das uns Unbekannte.

Die Schülerinnen und Schüler setzen sich direkt im Anschluss damit auseinander. Mit der Ausstellung „Demokratie stärken - Rechtsextremismus bekämpfen“, gestellt von der Friedrich-Ebert-Stiftung, organisierten einige einzelne Zehntklässler und Zehntklässlerinnen einen präsentationsartigen Vortrag. Dieser behandelt die verschiedenen Elemente der Ausstellung. Die Themen wie „Was ist Rechtsextremismus?“ oder „Jugendliche und Rechtsextremismus“ beleuchten auf hohen bunten Stelen den Raum.

Thema Radikalisierung

Am Tag zuvor hatte die kleine Gruppe Jugendlicher einen Workshop zur Vertiefung und pädagogischen Weitergabe der Inhalte besucht. Auch Radikalisierung wird thematisiert. „Aus Gedanken werden Taten“, heißt es auf der Infotafel. Strategien der extremen Rechten werden entschlüsselt, Grafiken von der Zunahme rechtsextremer Straftaten analysiert.

Das Wichtigste dabei: Die Vermittlung geschah von Schülerin zu Schülerin, von Klassenkameraden zu Klassenkameraden. „Ein bisschen wie in der Demokratie, nicht von oben nach unten, sondern eben andersrum“, kommentiert Steinbrenner die didaktische Methode. Auch Organisator Aronikov sagt: „Demokratiebildung liegt mir einfach am Herzen.“

Somit wurde der Diskurs eröffnet. Ein Schüler tritt hervor und initiiert ein Gespräch mit Rabbiner Pawelczyk-Kissin. Beide tauschen interessiert ihr Wissen aus. Und plötzlich scheint es tatsächlich ein wenig so zu sein, wie man sich wohl fühlen musste, philosophierend auf der griechischen Agora. Nur eben in der Neckarstadt-Ost.

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