Mannheim. Elf Prozent der Abgeordneten des Bundestages in Berlin haben einen Migrationshintergrund. Zum Vergleich: 26 Prozent der Bevölkerung in Deutschland hat eine Einwanderungsgeschichte.
Die allermeisten Mandatsträger mit Migrationsgeschichte sind überdies Männer. Immerhin, drei Frauen mit Migrationsbiografie, die im Bundestag sitzen, kommen aus Mannheim: Isabell Cademartori (SPD), Melis Sekmen (Grüne) und Gökay Akbulut (Linke).
Auftaktveranstaltung des Netzwerks in Mannheim
Das Politfix-Netzwerk Bund, ein Projekt, das der Bundesverband Interkultureller Frauen in Deutschland ins Leben gerufen hat, will dafür sorgen, dass es mehr werden. „Wir wollen Frauen mit Migrationsgeschichte in die Parlamente bringen, und wir wollen, dass die Frauen aufsteigen“, erklärte Galina Ortmann von der Initiative bei einer Auftaktveranstaltung jetzt in Mannheim.
Wählen unabhängig vom Pass
- 48 Prozent der Einwohner Mannheims haben einen Migrationshintergrund.
- Je nach Wahlart sind in Mannheim zwischen 200 000 (Parlamentswahlen) und 238 000 Menschen (Kommunalwahlen) wahlberechtigt.
- Bei Europawahlen können sich Unionsbürgerinnen und -bürger ohne deutsche Staatsangehörigkeit aussuchen, ob sie in ihrem Herkunftsmitgliedstaat oder hier in Deutschland wählen möchten. Sie müssen daher zunächst einen Antrag stellen, wenn sie hier wählen möchten; sie sind nicht automatisch im Mannheimer Wählerverzeichnis eingetragen. Die Betroffenen wurden vom Mannheimer Wahlbüro im Vorfeld der Europawahl jetzt im Juni angeschrieben und über diese Möglichkeit informiert.
- Bei der Oberbürgermeisterwahl im vergangenen Jahr hatte der Migrationsbeirat der Stadt Mannheim eine symbolische Wahl für nicht wahlberechtigte Mannheimerinnen und Mannheimer organisiert. 302 Menschen haben daran teilgenommen. Da die Organisation für eine solche Wahl zeitaufwendig ist, wird es sie bei der Kommunalwahl im Juni nicht geben.
- Das bundesweite Netzwerk „Wir Wählen“ setzt sich für ein Wahlrecht für alle unabhängig vom Pass ein. Laut der Initiative dürfen 5,3 Millionen volljährige Bürger in Deutschland weder bei der Bundestagswahl noch bei Landtags- oder Kommunalwahlen wählen, weil sie keinen deutschen und keinen EU-Pass haben.
Gefördert wird das Netzwerk, das das erste herkunfts-, partei- und länderübergreifende Politbündnis von Frauen mit Zuwanderungsgeschichte ist, von der Robert-Bosch-Stiftung sowie der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt. Frauen mit Migrationsgeschichte sollen unterstützt werden, damit sie sich politisches Engagement zutrauen. Gleichzeitig sollen Parteien dazu bewegt werden, sich interkulturell noch stärker zu öffnen. „Politikerinnen und Politiker mit Migrationshintergrund schaffen Vorbilder, und sie machen Demokratie echter, realer und sinnvoller“, erklärte Mannheims Sozialbürgermeister Thorsten Riehle (SPD).
Erfolgreich Frauen mit Migrationsbiografie unterstützt
Dass Teilhabe gelingen kann, hat das Vorgängerprojekt „Politfix“ gezeigt: Bei den Kommunalwahlen 2021 in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hessen wurden gezielt Frauen mit Migrationsgeschichte, die in die Politik wollten, unterstützt. Nach Aussage von Galina Ortmann gelang vier Frauen auf diese Weise der Sprung in den Landtag, zwei wurden Mitglied im Landesvorstand ihrer Partei und drei weitere wurden zu stellvertretenden Bürgermeisterinnen gewählt. „Damit hat sich unsere Vision erfüllt.“
Von Syrien in den Gießener Kreistag
Eine der Mentorinnen, die die Frauen während des Wahlkampfes unterstützt hat, ist Marline Younan. Sie floh 2013 mit ihrer Familie von Syrien nach Deutschland, nur acht Jahre später, mit Mitte 20, wurde sie für die SPD in den Kreistag von Gießen gewählt. Ihr Vater sei stolz, dass sie als syrische Frau in einem fremden Land Fuß gefasst habe. Für Demokratie einzutreten, sei ihr wichtig, sagt Younan. Denn sie musste aus ihrer Heimat fliehen, weil es dort keine Demokratie gab.
Das sagen Politikerinnen mit Migrationsbiografie:
Shirin Ziden, Listenplatz 22 der SPD, 23 Jahre alt, Lehramtsstudentin, in Deutschland geboren:
Mein Vater ist Algerier und vor 30 Jahren nach Deutschland gekommen, meine Mutter ist Deutsche. In erster Linie, da hier geboren und aufgewachsen, identifiziere ich mich als Mannheimerin, was für mich bedeutet, kaum Probleme damit zu haben, beide Kulturen auszuleben und zu fühlen. Mannheim als multikulturelle Stadt hat mich nie „anders“ fühlen lassen.
Eine Motivation als migrantische Frau in den Gemeinderat zu kommen, gab es zu Beginn meiner Kandidatur nicht. Im Gegenteil, ich hatte die Befürchtung, man könne mich nur wegen meines migrantischen Namens aufstellen und nicht, weil ich als Mannheimerin mit einem bunten Netzwerk in dieser Stadt einen Mehrwert bieten könnte. Dieses Gefühl hat sich zum Glück nicht bestätigt.
In den letzten Monaten, durch Ereignisse wie das Erstarken der AfD, ist mir bewusst geworden, wie prägend politische Sozialisation ist. Wie wichtig es ist, zu verstehen, woher politische Meinungen und Einstellungen kommen und wo es gelingen kann, Menschen politisch zu begegnen. Erst mit intensiver Auseinandersetzung damit ist mir aufgefallen, dass Menschen „wie ich“ durch antimuslimischen Rassismus gefährdet sind.
Umso wichtiger ist es, dass Migrantinnen und Migranten in den deutschen Parlamenten vertreten sind, da ihre Meinungen gehört werden müssen. Wir sind ein riesiger Teil der deutschen Bevölkerung und deutschen Kultur. Um eine Kluft zwischen (Partei-)Politik und migrantischen Menschen zu verringern, ist es mir besonders jetzt ein Anliegen geworden, diese zu repräsentieren. Wenn es nur eine Person gibt, die sich aufgrund meines Namens gesehen fühlt, ist mir das schon eine große Freude. Wenn es Menschen in unserer Stadtbevölkerung gibt, die sich mit dem Migrationshintergrund identifizieren können, wählen gehen und Vertrauen in die Politik gewinnen, dann ist dies der Mehrwert, den ich für die Gemeinderatswahl bieten möchte.
Nalan Erol, Listenplatz 2 der Linkspartei, 50 Jahre alt, Apothekenhelferin, in Deutschland geboren:
Ich bin seit 2018 im Gemeinderat, damals bin ich für Gökay Akbulut, die in den Bundestag einzog, in den Mannheimer Gemeinderat nachgerückt. Ich würde mir wünschen, dass mehr Frauen mit oder ohne Migrationshintergrund in Parteien, Kommunen und Parlamenten stärker vertreten sind. Frauen sehen sich nach wie vor vielen Hindernissen gegenüber, mit denen sie beschäftigt sind: Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, niedrige Löhne, Sexismus, Diskriminierung. Der Gender Pay Gap, also die geschlechtsspezifische Lohnlücke zwischen Männern und Frauen beträgt nach wie vor 18 Prozent, bei Frauen mit Migrationsbiografie ist die Lücke doppelt so hoch. Ich möchte mich deshalb für die Rechte und Interessen der Frauen einsetzen und ihnen Gehör verschaffen.
Rassismus erfahre ich im Alltag immer wieder. Wenn ich beispielsweise mit der Straßenbahn fahre und mit meiner Familie auf dem Handy telefoniere und türkisch spreche, sagen Menschen zu mir, ich solle in mein Heimatland zurückgehen. Hätte ich auf Englisch gesprochen, hätte das niemanden gestört. Ich gehe dann auf die Leute zu und sage: „Was ist das Problem? Ich bin hier geboren, habe meine Ausbildung hier gemacht, arbeite, zahle Steuern. Deutschland ist meine Heimat.“ Meine Eltern kamen 1973 als Gastarbeiter nach Deutschland – rund zwei Jahre vor dem Anwerbestopp. So wie viele andere wollten sie arbeiten, für die Zukunft sorgen und nach ein paar Jahren wieder zurückkehren. Doch später merkten sie, dass Deutschland für sie zur Heimat geworden war und sie entschieden sich zu bleiben.
Ganimete Salihu, Listenplatz 13 der CDU, 41 Jahre alt, Unternehmerin, im Kosovo geboren, lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland:
Als Unternehmerin, Mutter und politisch interessierte Person sowie ehemalige Immigrantin aus dem Kosovo bin ich besonders dankbar für die Chancen, die mir Deutschland und Mannheim geboten haben. Deshalb möchte ich etwas zurückgeben und auch die Zukunft unserer Stadt mitgestalten.
Es ist wichtig, dass Frauen mit Migrationshintergrund in Parteien, Parlamenten und Gemeinderäten vertreten sind, um eine vielfältigere und inklusivere politische Landschaft zu schaffen. Wir Frauen mit Migrationshintergrund können unterschiedliche Perspektiven, Erfahrungen und Bedürfnisse in politische Entscheidungsprozesse einbringen und tragen so zu einer gerechteren und ausgewogeneren Politik bei. Außerdem stärkt dies das Vertrauen von Menschen mit Migrationshintergrund in die politischen Institutionen und fördert die Integration und Partizipation in der Gesellschaft.
Mein Vater ist in den 1970ern als Bauarbeiter nach Deutschland gekommen und hat uns oft im Kosovo besucht. Meine Mutter, meine Geschwister und ich waren im Gegenzug dazu meist die ganzen Sommerferien bei ihm in Deutschland. Wir waren auch hier, als sich die Lage im Kosovo aufgrund des Krieges verschlimmert hat, also sind wir hier geblieben, und Deutschland wurde unser neuer Heimathafen.
Fouzia Hammoud, Listenplatz 15 der Grünen, 48 Jahre alt, Dozentin und Dolmetscherin, in Marokko geboren, lebt seit 22 Jahren in Deutschland:
Parteien sind zentrale Akteure in demokratischen Gesellschaften, wenn diese nicht divers sind und Menschen mit Migrationshintergrund nicht angemessen vertreten sind, können politische Entscheidungen und Programme die Vielfalt der Bevölkerung nicht adäquat berücksichtigen.
Die Vertretung von Frauen mit Migrationshintergrund in deutschen Parlamenten und Parteien ist aus mehreren Gründen wichtig:
Empowerment und Teilhabe: Die Teilnahme von Frauen mit Migrationshintergrund stärkt ihre Stimme und fördert ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Bekämpfung von Diskriminierung und Vorurteilen: Die Präsenz von Frauen mit Migrationshintergrund kann dazu beitragen, Stereotype und Vorurteile zu bekämpfen. Indem sie aktiv in politischen Entscheidungsprozessen vertreten sind, können sie zeigen, dass kulturelle Vielfalt eine Bereicherung darstellt und dass Frauen unabhängig von ihrer Herkunft in der Lage sind, wichtige politische Rollen zu übernehmen.
Politikgestaltung für alle: Frauen mit Migrationshintergrund bringen oft spezifische Erfahrungen und Perspektiven mit, die in politischen Entscheidungsprozessen berücksichtigt werden sollten. Ihre Präsenz in Parlamenten und Parteien kann dazu beitragen, politische Maßnahmen und Programme zu entwickeln, die die Bedürfnisse und Interessen aller Bevölkerungsgruppen besser berücksichtigen.
Schließlich ist auch die symbolische Kraft der Beteiligung von Frauen mit Migrationshintergrund nicht zu unterschätzen. Die Präsenz von migrantischen Frauen in Parteistrukturen und in politischen Ämtern kann als positives Beispiel für viele, vor allem junge migrantische Frauen dienen.
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