Frühere Weihnachtsferien durch Corona? Oder gar längere Schulschließungen? Damit rechnet der Chef-Epidemiologe des Landesgesundheitsamts, Stefan Brockmann, nicht – trotz steigender Infektionszahlen: „Es wäre falsch zu sagen, dass mit den Kindern und Jugendlichen die vierte Coronawelle steht oder fällt“, betont er. Und die Dynamik nehme etwas ab: „Wir sehen in Baden-Württemberg nicht, dass Kinder und Jugendliche die Corona-Entwicklung zunehmend beherrschen“, erwartet er, dass die Schulen im Südwesten planmäßig mit dem Unterricht im neuen Jahr starten können.
Das hoffen auch viele Eltern – und zwar nicht nur wegen der Lernlücken, die bei einem erneuten Lockdown noch größer würden als sie es ohnehin schon sind. Sondern auch wegen der zunehmenden psychischen Probleme bei Kindern und Jugendlichen. Diese Folgen der Pandemie seien „nicht direkt greifbar“, meint Gesche John vom Gesamtelternbeirat (GEB) der Stadt Mannheim. Dass Kinder leiden, dass sie belastet sind, dass Corona das verstärke und verschlimmere: Dieses Gefühl hätten viele Eltern. Um dazu Fakten zu bekommen, hat der GEB Hansjörg Tenbaum zur virtuellen Vollversammlung eingeladen.
Mehrere Hilfsangebote
Eine erste Anlaufstelle für Kinder mit psychischen Auffälligkeiten und deren Eltern sind die Erziehungsberatungsstellen. Es besteht ein Rechtsanspruch auf kostenlose Beratung.
Fünf Beratungsstellen gibt es in Mannheim – drei städtische, eine von der Evangelischen Kirche, eine von der Caritas.
Informationen dazu im Internet unter pb.ekma.de, caritas-mannheim.de/hilfe-und-beratung/kinder-familien-und-frauen/psychologische-beratungsstelle/ und pb-mannheim.de/joomla.
Weitere Anlaufstellen – unter anderem zu ambulanten Psychotherapeutinnen und -therapeuten, zur Telefonseelsorge oder Online-Beratung – listet die Evangelische Kirche unter pb.ekma.de/links/ auf.
Einen kostenlosen Elternratgeber gibt es unter pb.ekma.de/uploads/bptk-elternratgeber-internet.pdf. bhr
Hilfsangebote nutzen
Der Sozialpädagoge und Sozialtherapeut arbeitet bei der Psychologischen Beratungsstelle der Evangelischen Kirche in Mannheim – und ist mit den neuesten Studien zum Thema vertraut. Dass psychosoziale Belastungen der Kinder„ganz oben stehen auf der Tagesordnung“ der Vollversammlung, ist für Tenbaum „ein ermutigendes Signal“. Denn es bestehe dringender Handlungsbedarf, das macht er mit der „Copsy-Studie“ der Uniklinik Hamburg-Eppendorf deutlich. Copsy steht für Corona und Psyche, befragt haben die Wissenschaftler zu drei verschiedenen Zeitpunkten (Mai/Juni 2020, Jahreswende 2020/21 und Sommer 2021) mehr als 1000 Kinder und Jugendliche sowie etwa 1600 Eltern.
Die Ergebnisse der ersten beiden Befragungen liegen vor. Eindeutiges Fazit, so Tenbaum: „Lebensqualität und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat sich im Verlauf der Pandemie weiter verschlechtert.“ Fast jedes dritte Kind leide ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten. Sorgen und Ängste hätten ebenso zugenommen wie depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden. Hinzu kommt, dass sich das Gesundheitsverhalten der Befragten verschlechtert habe. Viele Kinder machten keinen Sport mehr, parallel dazu steige die Nutzung von Smartphones, Tablets und Spielekonsolen.
Was hilft und schützt in solch schwierigen Situationen? Dazu hat Tenbaum ein ganzes Bündel von Vorschlägen: Eltern als positive, fürsorgliche, verlässliche Vorbilder; achten auf gute und schöne Dinge im Leben; Realität akzeptieren; konzentrieren auf das, was man beeinflussen kann. Und Hilfe suchen. Der Sozialpädagoge nennt kostenlose Ratgeber und empfiehlt, bestehende Angebote in Anspruch zu nehmen – etwa die Erziehungsberatungsstellen. Sie arbeiten mit Eltern, Schulen und anderen Kooperationspartnern zusammen, um individuelle Problemlösungen zu finden.
Gibt es genügend Hilfsangebote? Auch diese Frage steht bei der Vollversammlung im Raum. Qualitativ gesehen ja, meint Tenbaum. Aber quantitativ sieht er Nachholbedarf. „Schon vor Corona war es schwierig, belasteten Kindern Hilfe zu geben“, sagt er. Jetzt sei es noch problematischer. Deshalb begrüßt er es sehr, dass die Stadt Mannheim ab Januar den fünf Erziehungsberatungseinrichtungen zunächst auf zwei Jahre befristet drei weitere Vollzeitstellen zur Verfügung stellen wird. Ein „Ressourcenproblem“ gebe es aber zweifellos sowohl bei stationären psychotherapeutischen Einrichtungen als auch bei niedergelassenen Psychotherapeuten.
„Die Hütten brennen“
Das Stichwort Ressourcenproblem leitet über zum zweiten großen Themenkomplex des Abends: der mangelhaften Versorgung der Schulen mit Lehrkräften. Der reguläre Unterricht könne vielerorts nicht mehr sichergestellt werden, beklagt Michael Kett vom GEB. Insbesondere gelte das für sonderpädagogische Förderzentren (SBBZ), aber auch für Grundschulen. An diesem Abend „zugeschaltet“ sind die beiden Landtagsabgeordneten Susanne Aschhoff (Grüne) und Stefan Fulst-Blei (SPD), beide stimmen Kett zu. Aber während Aschhoff den Blick eher auf die – erst mittelfristig wirksame – Schaffung größerer Lehrkräfte-Ausbildungskapazitäten richtet und sich bis dahin für Nachbesserungen beim Nachholprogramm „Rückenwind“ stark macht, sieht Fulst-Blei sofortigen Handlungsbedarf: „Die Hütten brennen.“
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