Interview

Mannheims Dekan Karl Jung: Mehr Menschen suchen nach Sinn

Heutzutage geht es in Beichten auch um Beziehungs- und Glaubensfragen sowie um Persönlichkeitsentwicklung. Das sagt Mannheims Stadtdekan Karl Jung im Interview. Was sich noch in den vergangenen 37 Jahren verändert hat

Von 
Valerie Gerards
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„Es sind viel mehr Menschen auf der Suche – nach Sinn und Heilung in ihrem Leben“, sagt Mannheims Dekan Karl Jung, hier vor dem Beichtstuhl in der Jesuitenkirche. © Valerie Gerards

Mannheim. Herr Jung, was ist Sünde?

Jung: Sünde ist Abkehr von Gott. Nicht in dem zu leben, das durch die Überlieferung in der Heiligen Schrift vorgegeben ist.

Hat sich verändert, was Menschen als Sünde empfinden und dann beichten? Was haben die Menschen vor drei Jahrzehnten bereut, was bereuen sie heute?

Jung: Ja, es gibt Veränderungen. Die Beichten heute sind viel persönlicher geworden. Früher waren sie eher schematisch, wie man das gelernt hat: Man ging den Beichtspiegel durch und sagt dann zu den Fragen: Ja, drei Mal, zwei Mal, fünf Mal.

Welche Fragen sind das?

Jung: Im Beichtspiegel geht es um eine Fülle von Fragen, etwa wie mein Verhältnis zu Gott ist, wie ich die Nächstenliebe lebe, wie es bei Menschen aussieht, für die ich Verantwortung übernommen habe.

Und welche Themen sind es heute?

Jung: Beziehungsfragen, aber auch Glaubensfragen. Wie kann ich mich weiterentwickeln? Oder ich habe meinen Glauben, den ich früher hatte, verloren. Das sind wahrscheinlich Bereiche, die man nicht mit jedem nebenbei bespricht, denn es sind manchmal sehr persönliche Fragen.

Es geht bei der Beichte weniger um Schuld als um Persönlichkeitsentwicklung?

Jung: Weniger Schulderfahrungen in Bezug auf Gott, Glaube und Kirche, ja. Aber es gibt mehr Schulderfahrungen aus dem mitmenschlichen Bereich, aber verknüpft mit der Frage, wie es weitergehen kann. Da spielt der Glaube eine Rolle, denn die Menschen, die zur Beichte kommen, glauben schon an einen Gott, der Vergebung und einen Neuanfang schenkt.

Werden auch noch klassische Sünden gebeichtet wie Ehebruch oder Diebstahl?

Jung: Das gibt es natürlich auch. Bei denjenigen, die zur Beichte kommen, ist ein Unrechtsbewusstsein vorhanden, und sie möchten das zumindest aussprechen können. Das Aussprechen einer Schulderfahrung ist der erste Schritt hin zu einer Verarbeitung oder Lösung. Das Zweite ist die absolute Sicherheit der Geheimhaltung der Beichte. Das Dritte ist die Zusage der Versöhnung. Das ist dann die Aufgabe des Priesters zum Schluss.

Wie präsent ist Beichten in unserer modernen Gesellschaft überhaupt noch?

Jung: Früher habe ich ganz selten erlebt, dass Menschen noch nie bei der Beichte waren, gar nicht wissen, was Beichte ist und wie sie funktioniert. Heute wollen einige das einfach mal ausprobieren. Es sind viel mehr Menschen auf der Suche – nach Sinn und Heilung in ihrem Leben.

Hat die moderne Kommunikation die Beichte nicht teils abgelöst?

Jung: Manche haben schon versucht, bei anderen Hilfe zu finden, und kommen dann gern zur Beichte, um über das zu reden, was sie bewegt. Es ist ein Vertrauensvorschuss gegenüber dem Priester, ich finde, es gehört schon was dazu, wenn man etwas ganz Persönliches ausspricht. Gerade, wenn es um eine Schulderfahrung geht. Was würde passieren, wenn man das im Freundeskreis oder bei Arbeitskollegen erzählt?

Da muss man unter Umständen mit einer Verurteilung rechnen . . .

Jung: Ja. Oder wenn es um Glaubensfragen geht: Manche trauen sich gar nicht, das in ihrem Umfeld anzusprechen. Die Beichte ist dann zum Beispiel eine Möglichkeit.

Wird denn noch viel gebeichtet?

Jung: Im Monat kommen rund 100 Menschen zur Beichte in der Jesuitenkirche. Als ich junger Priester war und zu meinen Anfangszeiten in Mannheim waren es vielleicht 50 oder 60.

Das erstaunt mich!

Jung: Es gibt insgesamt in Mannheim weniger Priester, deswegen gibt es auch an anderen Orten manchmal weniger Beichtgelegenheiten. Deswegen gehen die Leute, die beichten wollen, auch an andere Orte, wo gewährleistet ist, dass zu bestimmten Zeiten Beichtgespräche sind. Die Jesuitenkirche und St. Sebastian am Marktplatz sind schwerpunktmäßig Beichtkirchen.

Die Beichtzeiten in der Jesuitenkirche dauern freitags eine halbe Stunde und samstags anderthalb. Sind das nicht sehr viele Menschen in so kurzer Zeit?

Jung: Neben den festen Beichtzeiten kann man auch Termine mit einem Priester ausmachen. Es geht nicht darum, bis ins letzte Detail über alles zu sprechen, sondern um die Erfahrung, die diese Menschen gerade umtreibt. Zuhören ist ganz wichtig, ein Wort der Versöhnung und der Zukunft zu hören, manchmal auch einen Weg aufzeigen. Aber meistens haben die Leute selber schon Ideen, wie sie ihre Situation verändern und verbessern können.

Wie alt sind sie?

Jung: Es sind auch jüngere Menschen um die 20 oder 30 dabei, aber natürlich auch Ältere, die das Beichten gewohnt sind und regelmäßig beichten gehen.

Was bedeutet die Beichte für Sie persönlich?

Jung: Beichte ist für mich ein ganz wesentlicher Teil von Seelsorge. Das Zuhören und das Zusprechen des Wortes Jesu´ „Deine Sünden sind dir vergeben“ sind für mich ganz dichte Erfahrungen. Ich bin gern bei Beichten dabei und will dafür sorgen, dass es in der Jesuitenkirche und St. Sebastian weiterhin einen Ort hat.

Gibt es auch Geschichten, bei denen die Sache mit der Beichte nicht abgehakt ist?

Jung: In Einzelsituationen. Manchmal wäre es gut, wenn man sich noch mal trifft. Oder dass flankierend vielleicht andere Experten eine Beratung, Begleitung oder Therapie übernehmen. Das biete ich dann natürlich auch an, manchmal sind Beichten auch Hilferufe. Es ist kein Automatismus, dass man jemanden, egal was er sagt, von seinen Sünden losspricht. Oft ist Beichte der Beginn einer Veränderung.

Bereiten Ihnen die Sünden anderer manchmal schlaflose Nächte?

Jung: Es ist schon so, dass mich manche Themen und Aussagen weiter beschäftigen, aber dass mich etwas so umgeworfen hätte: Nein, das habe ich noch nicht erlebt. Ich möchte zuhören, präsent sein bei einem Beichtgespräch und es dann zurücklassen können. Manche Menschen bereuen etwas erst nach 20 Jahren. Auch da ist es wichtig, Menschen zu helfen. Es geht nicht um die Auslöschung der Tat, weil man das nicht kann. Aber man kann versuchen, in einer versöhnteren Haltung zu leben und manchmal auch das eine oder andere wieder gutzumachen.

Das Aussprechen einer Schulderfahrung ist der erste Schritt hin zu einer Verarbeitung oder Lösung

Dekan Karl Jung

  • Karl Jung wurde 1959 in Baden-Baden geboren. 1987 wurde er nach dem Theologiestudium in Freiburg und München zum Priester geweiht.
  • Seit 2005 und bis Ende 2025 ist Jung Dekan der Katholischen Kirche.
  • In seiner Lehrtätigkeit als Dozent für Sakramentenpastoral hat er junge Theologen unterrichtet – auch, was das Bußsakrament angeht. vg

 

Beichte ist für mich ein ganz wesentlicher Teil von Seelsorge

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