Frau Peter, Sie sind in Kasachstan geboren, haben die deutsche Staatsbürgerschaft und deutsche Wurzeln. Ihre Großeltern haben in der Ukraine gelebt. Wie kam Ihre Familie nach Deutschland?
Irina Peter: Ich komme aus einem Dorf in Kasachstan, das zu 80 Prozent aus deutschen Siedlern bestand. Meine Großeltern wurden 1936 im Dorfverband aus der Ukraine deportiert. Als es mit der Perestroika losging und alle Deutschen langsam das Dorf Richtung Deutschland verließen, zögerten meine Eltern noch. Sie hatten Angst, als Deutsche angefeindet zu werden. 1992 sind wir nach Buchen in den Odenwald gekommen. Erst im Zuge der Auswanderung habe ich verstanden, dass wir Deutsche sind. Meine Eltern mussten zwei Mal ihr Leben neu aufbauen. Ein Mal in Kasachstan, ein Mal in Deutschland. In beiden Ländern mussten sie gegen Diskriminierung oder Vorurteile kämpfen. In Kasachstan wurden sie teilweise als deutsche Faschisten wahrgenommen, in Deutschland als Russen, was nicht richtig ist, weil wir keine russischen Wurzeln haben, sondern deutsche.
Haben Sie selbst Diskriminierungserfahrungen gemacht?
Peter: Sehr wenige. Ich bin blond, ich sehe europäisch aus, nur mein Name hat mich verraten. Ich wurde oft gefragt, woher ich denn wirklich komme. Dabei wollte ich das gar nicht erzählen, damit die Leute nicht denken, ich gehöre nicht dazu. Es gibt so viele Vorurteile, weil die Leute nicht verstehen, wer Russlanddeutsche eigentlich sind. Ich habe mich lange für meine Herkunft geschämt.
Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Wurzeln im ukrainischen Wolhynien zu suchen?
Peter: Während meines Studiums habe ich mich mehr und mehr für die Geschichte meiner Familie interessiert. Ich habe einen russischen Vornamen, einen deutschen Nachnamen, und meine Großeltern wurden in der Ukraine geboren. Das hat für mich viele Fragen aufgeworfen. 2016 sind die Russlanddeutschen im Zusammenhang mit dem Fall Lisa mit der AfD und ihrer angeblichen Putin-Hörigkeit in die Schlagzeilen geraten, 2017 war Bundestagswahl, und die Berichterstattung rund um die Russlanddeutschen hat mich so genervt. Man hatte 30 Jahre lang nicht über uns gesprochen. Wir sind ja Streber-Migranten, alle tiptop integriert, haben Abitur, sind fleißig und karriereorientiert. Und dann dieses mediale Bild, das auf den Großteil der Russlanddeutschen überhaupt nicht zutraf! 2018 habe ich beschlossen, in die Ukraine zu fahren. Ich wollte wissen, woher wir kommen.
Was haben Sie herausgefunden?
Peter: Ich hatte eine alte Karte von Wolhynien in der Westukraine aus der Zeit des Nationalsozialismus mit Hunderten von deutschen Siedlungen. Die Dörfer heißen heute alle anders und existieren zum Teil nicht mehr. Zuerst war ich in Gottliebsdorf, wo meine Großmutter gewohnt hatte. Dort hatten früher etwa 200 Deutsche gelebt, als ich dort war, waren drei Häuser übrig. Bei Google Maps kann man noch die ursprüngliche Anordnung der Häuser und die Straßen erkennen. Aber wenn man dort ist, sieht man nur noch Wald und Hügel. Ich hatte einen Familienforscher dabei, der mir gezeigt hat, wie man anhand der Obstbäume erkennt, wann dort zuletzt Menschen gelebt haben. Es war faszinierend, ein richtiges Geisterdorf. Als ich dann in Towine im Dorf meines Großvaters Reinhold Peter war, sah es aus wie unser Dorf in Kasachstan. Die Bauweise der Häuser war gleich, die Schnitzereien an den Fensterrahmen, die Anordnung der Zimmer war identisch. Es fühlte sich unglaublich vertraut an. Auch die Menschen und die Sprache, obwohl ich nie vorher Ukrainisch gehört hatte.
Irina Peter
- Das Deutsche Kulturforum östliches Europa engagiert sich für die Vermittlung deutscher Kultur und Geschichte in allen Regionen Osteuropas, in denen Deutsche gelebt haben oder bis heute leben.
- Der gemeinnützige Verein vergibt jedes Jahr ein Stipendium an Stadtschreiber, um außergewöhnliches Engagement für gegenseitiges Verständnis und interkulturellen Dialog zu fördern. Im Jahr 2021 wurde das Stipendium in Odessa an Irina Peter vergeben.
- Die Mannheimerin berichtete nach Kriegsbeginn weiter aus der Schwarzmeer-Metropole und gewann am 4. April bei der Verleihung des Goldenen Bloggers in Berlin die Auszeichnung als „Newcomerin des Jahres 2022“ für ihren Blog als „Stadtschreiberin Odessa“.
- Irina Peter ist Marketingmanagerin, Journalistin und betreibt den Aussiedler-Podcast „Steppenkinder“. Ihr Blog ist unter www.stadtschreiberin-odessa.de zu finden.
Haben Sie Ihre Wurzeln gefunden?
Peter: Als wir im Dorf ankamen, habe ich ein paar Leute gefragt, ob sie jemanden kennen, der Bondartzyk heißt. Der Mann schaute mich an und zeigte nacheinander auf vier verschiedene Häuser. Alle hießen so. Das waren alles Verwandte der ersten Ehefrau meines Opas, einer Ukrainerin, und ich saß plötzlich bei einer über 80-jährigen Cousine meiner Tante im Haus. Sie wusste, wer mein Opa war. Ich war am Ende der Welt, und sie holte ein Fotoalbum heraus mit Bildern meines Großvaters, von meinen Tanten und der halben Verwandtschaft. Ich weiß nicht, wo meine Heimat ist. Kasachstan, der Odenwald, Mannheim. Aber als ich da stand, das war einfach Liebe.
Haben Sie sich Ihren Vorfahren nahe gefühlt?
Peter: Ja. Dort habe ich verstanden, woher die Sehnsucht bei meinen Großeltern kam. Sie wollten immer zurück nach Wolhynien, haben sich abends heimlich getroffen und Lieder aus der Heimat gesungen. So haben es mir meine Eltern erzählt. Die Landschaft ist wunderschön, diese vollen Apfelbäume, das milde Klima, alles üppig. Ich weiß ja, wie es in Kasachstan ist, wohin meine Großeltern 1936 deportiert wurden und wo ich aufgewachsen bin. Neun Monate Winter, minus 40 Grad. Im kurzen Sommer irre heiß, bis 40 Grad. Meine Großeltern und ihre Nachbarn wurden einfach in der Steppe ausgesetzt. Da kam ein Holzpfosten rein mit einer Nummer drauf, Dorf Nummer 28, und hier, bitte, das ist eure neue Heimat. Man kann sich vorstellen, wie viele Menschen da gestorben sind. Meine Familie hatte Glück, denn sie hatten eine Woche Zeit, sich auf die Deportation vorzubereiten. Sie konnten sogar Vieh und Möbel mitnehmen. 1941 hatten etwa Wolgadeutsche nicht so viel Glück. Sie hatten nur 24 Stunden Zeit.
Was hat die Reise bewirkt?
Peter: Ich fühle mich meinen Großeltern und mittlerweile auch durch meine Freundschaften der Ukraine sehr verbunden. Ich habe das Gefühl, ich hole ein bisschen Geschichte zurück in meine Familie, die uns gestohlen worden ist. Mein Großvater wurde als junger Mann verhaftet und war neun Jahre im Straf- und Arbeitslager in der Sowjetunion, dem Gulag. Er kam mit 38 als Greis zurück. Sie haben ihn nur gehen lassen, weil sie dachten, dass er sowieso stirbt. Er hat nicht über diese Zeit geredet, weil er solche Angst hatte, dass er zurück in den Gulag muss. So ging es sehr vielen Deutschen.
Gab es für Ihre Großeltern und Eltern keine Möglichkeit, in die Ukraine zurückzukehren?
Peter: Nein, das war verboten. Bis 1956 standen alle Deutschen unter Kommandantur, und zwar als einzige Nation in der Sowjetunion. Sie waren Gefangene in ihrem Deportationsdorf. Sie durften ihr Dorf nicht ohne schriftliche Genehmigung verlassen und mussten Zwangsarbeit leisten. Das hieß Verbannung auf Lebenszeit. Eine Ausreise in den 1970er-Jahren war nach einer Teilrehabilitation der Deutschen theoretisch möglich. Aber die Menschen in den Dörfern haben erst Jahre später davon erfahren. Da war es zu spät. Mein Großvater hat sein Dorf in Wolhynien 1968 besucht, da war nur noch die Schwelle des Hauses übrig.
Ein Zeitprung: Sie haben 2021 ein Autorenstipendium als Stadtschreiberin in Odessa bekommen. Was haben Sie dort erlebt?
Peter: Es ging mir vor allem darum, die Ukraine in Deutschland bekannter zu machen. Ich war viel unterwegs, in Tscherniwzi, Kiew, Bessarabien und Schytomyr und hatte immer Historiker oder Familienforscher an meiner Seite, die mich unterstützt haben. Ich habe mit vielen Holocaust-Überlebenden gesprochen. Odessa und seine Einwohner liebe ich. Die Odessiten haben einen sehr speziellen Humor. Am Anfang wusste ich nie, ob das ein Scherz ist oder man mich auf den Arm nimmt. Man liebt dort das süße Leben, geht an den Strand, man arbeitet viel, aber man feiert auch gut. Die Stadt ist voller wunderschöner, fetter Katzen. Wenn man in ein Café geht, und eine Katze sitzt auf einem Stuhl, darf man sie nicht verscheuchen. Der Platz ist dann besetzt. In der Innenstadt steht ein Katzenhotel neben dem nächsten.
Was ist denn ein Katzenhotel?
Peter: Sie nennen sie Kottages, ein Wortspiel aus dem russischen „Kot“ für Katze und dem englischen „Cottage“. Das sind kleine zweistöckige Büdchen, in denen sich Futter und Liegeflächen befinden. Es gibt in Odessa Freiwillige, die das Futter auffüllen, und eine Immobilienfirma, die diese Kottages aufstellt. Die Katzen sind nicht umsonst so fett.
Ihre Erlebnisse haben Sie in Ihrem Blog geteilt?
Peter: Ja, sehr viel Zeit habe ich auch in meinen Instagram-Account gesteckt. Die Belohnung dafür sehe ich erst jetzt. Mir schreiben viele Menschen, dass sie so die Ukraine und Odessa kennengelernt hätten. Jetzt, da der Krieg ausgebrochen ist, fühlen sie sich dem Land so nah, obwohl sie selbst nie dort waren. Es war mein Ziel, den Deutschen die Ukraine ein bisschen vertrauter zu machen. Als Stipendiat des Deutschen Kulturforums östliches Europa ist man eine Art Brückenbauer zwischen den Ländern, aber auch zwischen der Vergangenheit und dem Jetzt.
Ihre letzten Einträge sind sehr aktuell. Machen Sie weiter?
Peter: Eigentlich war der Blog mit dem Ende des Stipendiums geschlossen. Aber als der Krieg ausbrach, habe ich beschlossen, so lange weiterzuschreiben, bis er endet.
Was haben Sie bei Kriegsbeginn empfunden, nachdem Sie sich 2021 in Odessa verliebt haben?
Peter: Am 21. Februar hat Wladimir Putin seine Geschichtsstunde gehalten. Da war klar, dass das eine Pseudo-Legitimation für den russischen Angriff auf die Ukraine ist. Am 24. Februar hat meine Freundin Karina aus Odessa geschrieben, dass sie seit fünf Uhr morgens Explosionen und Alarm hört. Ich bin einfach in Tränen ausgebrochen. Es fühlt sich an, als wäre jemand gestorben, der mir nahe steht. Am Anfang war ich fast panisch, habe meine Freunde in der Ukraine angerufen, dass sie sofort das Land verlassen müssen.
Haben sie auf Sie gehört?
Peter: Manche haben es getan. Sie sind hierher geflüchtet, aber den Krieg haben sie dabei. Es geht den Geflüchteten oft nicht besser als denen, die dort geblieben sind. Viele fühlen sich schuldig, dass sie in Sicherheit sind und ihre Angehörigen nicht. Karina ist geblieben. Ihre Eltern sind schon alt. Sie meint, die Flucht wäre vielleicht eine größere Belastung, als ständig die Flugzeuge zu hören und sich zu verstecken.
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