Gedenkveranstaltung

Mannheim erinnert an die Pogromnacht: "Das Volk hat gaffend zugesehen"

Die Stadt Mannheim und die Jüdische Gemeinde erinnern an Pogromnacht vor 85 Jahren. Überschattet wird das Gedenken vom Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober

Von 
Valerie Gerards
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Beleuchtet: Hashtag „WeRemember“ im Gedenken an die Reichspogromnacht. © Valerie Gerards

Mannheim. Am Abend des 9. November 1938 brannten die Synagogen, jüdische Männer und Frauen wurden geschlagen und erschlagen: 85 Jahre nach der Pogromnacht erinnern die Stadt Mannheim und die Jüdische Gemeinde Mannheim erneut an die Angriffe. Überschattet wird das Gedenken vom Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober.

Ein Blick zurück

Heidrun Kämper, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, blickt in ihrer Ansprache auf die Planung der Reichspogromnacht zurück. Der Straßenterror der SA und der Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte seien jener Schreckensnacht vorausgegangen. Der Ausschluss der Juden sei eine Gemeinschaftsaktion der Gesellschaft und des Regimes gewesen, befeuert durch die Popularisierung von Judenhass, Hetzschriften und judenfeindlicher Lehre an Schulen. „Vor allen Geschäften standen junge Bürschchen in Uniform, mit Schildern ,Kauft nicht bei Juden’, (...). Die Arztschilder an den Häusern sind besudelt und zum Teil beschädigt, und das Volk hat gaffend und schweigend zugesehen“, zitiert sie aus dem Tagebuch der jüdischen Ärztin Hertha Nathorff.

Szenische Lesung aus Briefen der jüdischen Familie Oppenheimer, gelesen von Gert Weisskirchen, ehemaliger Abgeordneter der SPD im Deutschen Bundestag, sowie Ursula und Anton Ottmann. © Valerie Gerards

Am 9. November wird eigentlich der jüdischen Opfer durch den nationalsozialistischen Terror gedacht. Seit dem Terrorangriff durch die Hamas hat sich das geändert. „Wenn wir in diesen Tagen an Terror denken, beziehen wir den 7. Oktober mit ein“, sagt Kämper. Dazwischen liegen 85 Jahre. Beide Pogrome würden auf Vernichtung zielen, beide seien erbarmungslos. Der Antisemitismus scheine zuzunehmen. „Ist das wirklich so? Oder wird er nur sichtbarer und lauter, war aber immer da?“, fragt sie.

#WeRemember

Mit dem Hashtag „WeRemember“ ist die Außenwand der Synagoge beleuchtet. Und es sind viele Menschen, die sich an diesen schwarzen Tag der deutschen Geschichte erinnern wollen. Der Saal im jüdischen Gemeindezentrum ist an diesem Abend voll bis auf den letzten Platz. Zahlreiche Besucher auch von außerhalb der jüdischen Gemeinde sind gekommen. Kantor Amnon Seelig spricht das Gebet El Male Rachamim für die Ermordeten. Gert Weisskirchen, ehemaliger Abgeordneter der SPD im Deutschen Bundestag, sowie Anton und Ursula Ottmann lesen aus den Briefen der jüdischen Familie Oppenheimer, die von den Nationalsozialisten auseinandergerissen wird.

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Der Jugend- und Mädchenchor des Bachgymnasiums singt „Unter deinen weißen Sternen“; der jiddische Dichter Abraham Sutzkever hatte es 1943 im Ghetto von Wilna geschrieben, als er bereits die Ermordung der Hälfte aller jüdischen Einwohner der litauischen Hauptstadt erlebt hatte. So schön der Chor auch singt - die Kinder und Jugendlichen gehen zunächst ohne Applaus von der Bühne. Die dunkle Erinnerung ist im Saal greifbar. Erst nach einer Weile klatschen die Besucher.

Pretzell entschuldigt sich

Bürgermeisterin Diana Pretzell (Grüne) erinnert daran, dass 1938 in Mannheim die Hauptsynagoge, die Lemle-Moses-Klaus- und die Feudenheimer Synagoge entweiht, Jüdinnen und Juden angegriffen, verletzt und in Konzentrationslager verschleppt wurden. „Die Nationalsozialisten hatten in Mannheim tatkräftige Unterstützung, auch in der Stadtverwaltung“, sagt sie und entschuldigt sich dafür im Namen der Stadtverwaltung. An die jüdische Gemeinde gerichtet sagt Pretzell: „Wir sichern zu, dass wir wollen, dass Sie sich hier zu Hause fühlen. Immer und in Zukunft.“

Auch die Bürgermeisterin thematisiert den Krieg im Nahen Osten, der bis nach Mannheim hineinwirke. Sie dankt der Bevölkerung, die vergangene Woche bei der Mahnwache am Rosengarten und der Menschenkette durch die Innenstadt für die Freilassung der Hamas-Geiseln demonstriert habe. „Hamas-Terroristen sind keine Freiheitskämpfer.“ Die Bevölkerung wolle sich dem ganz klar entgegenstellen und jüdisches Leben beschützen.

"Nie wieder!"

„Nie wieder! Krieg, Verfolgung, Pogrome. Mit diesen Versprechen sind Menschen schon oft losgezogen“, sagt Bernhard Boudgoust, katholischer Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Rhein-Neckar. Dieses Versprechen sei jedoch nicht einlösbar, wenn nicht alle Menschen es wollen. „Es ist ein Versprechen, das eher ein Flehen oder eine Hoffnung ist“, meint er. Christen und Juden würde die Hoffnung verbinden, dass alles zu einem guten Ende kommen wird.

Pfarrer Joachim Vette, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen, bekannte explizit die Schuld der Kirche, die auch zum Pogrom am 9. November geführt hat, und fragte, wie man mit der vielen Gewalt umgehen könne. „Wenn uns die Worte fehlen, können wir immer noch beten“, meint der Geistliche. „Für die Hamas-Geiseln, aber auch für uns selbst, um Klarheit und um die Hoffnung nicht zu verlieren.“

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