Mannheim. Wie fühlte es sich an, in den 1970er und 80er Jahren ein sogenannter Gastarbeiter zu sein? Welche Auswirkungen hat das auf die nachkommenden Generationen? In seinem Buch „Kartonwand“ (erschienen 2023) beschäftigt sich Fatih Çevikkollu mit dem Trauma der Arbeitsmigranten. Im Mittelpunkt steht dabei seine eigene Familie, vor allem seine Mutter, die an einer Psychose litt. Im Restaurant Maruba lud das Deutsch-Türkische Institut für Arbeit und Bildung (DTI) zu einer Lesung mit dem Autor ein.
„Wir möchten eine Brücke bauen für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Unsere Demokratie ist in Gefahr geraten“, sagte Fritz Egle, zusammen mit Mustafa Baklan, DTI-Mitbegründer. Egle bekam das Buch zu Weihnachten geschenkt und war so begeistert, dass er Çevikkollu fragte, ob er in Mannheim lesen würde. Der in Köln lebende Schauspieler und Kabarettist sagte zu. Moderiert wurde die Lesung von DTI-Mitglied Azize Ekinci. „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“, zitierte Ekinci den Ausspruch von Max Frisch. „Mit dem Buch hat Fatih etwas gemacht, das Mut braucht. Der Vater kam, um zu arbeiten, aber die Mutter kam nie an. Das Buch ist eine Annäherung an ein Trauma, das bis heute anhält. Es beschreibt das Gefühl, in einem Provisorium zu leben.“
Fatih Çevikkollus Buch „Kartonwand“: in ein fremdes Land ohne Sprach- und Integrationskurse
Das Buch beginnt in einem Moment der Stille. Çevikkollu ist 2017 auf einer Tour, bekommt im Hotel einen Anruf von seinem Bruder und weiß sofort: Alles ist anders. „Meine Mutter war gestorben. Es fühlte sich an wie ein unterirdischer Atombombentest, bei dem man an der Oberfläche nichts sieht.“ Die Mutter, die psychisch krank war, lebte in der Türkei. Sie starb nachts nach einem Sturz und wurde erst vier Tage später gefunden. Der Bruder fliegt sofort in die Türkei, doch Fatih steht unter Schock. Er kann nicht darüber reden und will mit dem Schmerz allein sein. Da er immer wieder von Migranten hört, die psychische Probleme haben, möchte er genauer nachfragen, woher diese Probleme stammen und was die Psychose der Mutter ausgelöst haben könnte.
In der Türkei war sie Lehrerin und hatte einen Job, dann ist sie meinem Vater nach Deutschland gefolgt. Eine Willkommenskultur gab es hier damals nicht.
„In der Türkei war sie Lehrerin und hatte einen Job, dann ist sie meinem Vater nach Deutschland gefolgt. Eine Willkommenskultur gab es hier damals nicht. Die Familie wollte nur fünf Jahre bleiben.“ Die Eltern kauften schöne Dinge ein, die sie in Kartons lagerten, für später, für die Türkei. Daher stammt der Titel des Buches „Kartonwand“. Seine Generation nennt Fatih „Kofferkinder“, die zwischen der Türkei und Deutschland hin- und hergeschickt wurden, über deren Köpfe hinweg. „Die Bindung wird immer abgerissen, das macht nichts Gutes mit dir“, so der Autor.
Sein Vater, von Beruf Schlosser, arbeitete bei den Ford-Werken in Köln. Er sei schweigsam, streng und tyrannisch gewesen. „Er war nur mit einem Koffer und einem Arbeitsvertrag gekommen. Deutschland war nicht bereit für die Gastarbeiter.“ Nicht nur in den Behörden traf man auf Nazis, und Sprachkurse gab es in den 1970ern für die Arbeiter nicht. Den ersten Integrationskurs gab es 2005, da waren selbst die „Kofferkinder“ schon erwachsen. Fatih Çevikkollu fügte hinzu: „Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der meine psychisch kranke Mutter gut hätte leben können.“
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