Fast jeder kennt den Rattenfänger von Hameln. Von ihm erzählt eine der bekanntesten deutschen Sagen: der bunt gekleidete Mann, der mit seiner Flöte Ratten und Mäuse aus ihren Löchern hervorlockte und sie in die Weser trieb. Als die Hamelner Bürger ihm die Bezahlung verweigerten, kehrte er in Gestalt eines Jägers zurück und lockte mit seinen Flötentönen Kinder aus den Häusern und verschwand mit ihnen auf Nimmerwiedersehen.
In unsere Sprache hat das Wort Rattenfänger in einem übertragenen Sinn Eingang gefunden und bezeichnet jemanden, der die Fähigkeit besitzt, andere zu ihrem Nachteil in eine Sache hineinzulocken.
Wer an diesem Sonntag den Gottesdienst in einer katholischen Kirche besucht, der wird ein Wort hören, das dem Rattenfänger verwandt zu sein scheint: Menschenfischer. Am See von Galiläa, so heißt es am Anfang des Markusevangeliums, trifft Jesus auf die Fischer Simon und Andreas und ruft ihnen zu: „Kommt her, mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen.“ Und erstaunlicherweise lassen die beiden alles stehen und liegen und gehen mit diesem Jesus mit.
Ein eigenartiges Wort, das mich zunächst auch etwas befremdet: Menschenfischer. Fischer fangen mit Haken oder Netzen ihre Beute. Wollte Jesus, dass Simon, Andreas und die anderen Jünger Menschen fangen, sie unfrei machen oder ihnen gar das Leben nehmen? Das wollte er sicher nicht.
Eher im Gegenteil. Alles, was nach diesem Anfangskapitel des Markusevangeliums von Jesus und seinen Jüngern berichtet wird, geht in eine andere Richtung: Frei machen wollte er sie, ihnen das nehmen, was am Leben hindert. „Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben“, sagt Jesus an anderer Stelle.
Rattenfänger und Menschenfischer, ähnlich sind sie. Beide versprechen Befreiung, Erlösung und Glück, wenn man ihnen nur glaubt und folgt. Während aber der sprichwörtliche Rattenfänger, Menschen in Abhängigkeit bringt und seinen eigenen Vorteil sucht, liegt dem Menschenfischer Jesus das Wohl und das Heil der Menschen am Herzen. So sehr, dass er am Ende nicht andere über die Klinge springen lässt, sondern selbst am Kreuz hängt und stirbt.
Leider scheint es so zu sein, dass die Rattenfänger Konjunktur haben. Seit einem Jahr ist in Amerika jemand Präsident, der seine Lügen als „alternative Fakten“ verbrämt, der sich den einfachen Leuten als ihr Fürsprecher anbiedert und doch selbst Teil des Establishments bleibt, das er vorgibt zu bekämpfen. Hierzulande sind die wieder hoffähig geworden, die mit einfachen Parolen, schnelle Lösungen für komplexe Sachverhalte propagieren.
Leider sind im Lauf der Geschichte aus den Menschenfischern in der Nachfolge des Jesus aus Nazareth auch allzu oft Rattenfänger geworden: nicht nur im finsteren Mittelalter sondern bis in unsere Zeit hinein. Darum sitzen Christen auch nicht auf einen hohen moralischen Ross, von dem sie auf andere herunterschauen könnten.
Für eine wirklich menschliche Gesellschaft gilt es daher, wachsam zu bleiben und Menschenfischer von Rattenfängern sorgsam zu unterscheiden. „Reich Gottes“ nennt Jesus eine Welt, in der es wirklich menschlich zugeht. Wer am morgigen Sonntag den Gottesdienst besucht, hört auch diese Zusage: „Das Reich Gottes ist nahe!“
Peter Wegener, Katholisches Dekanat Heidelberg-Weinheim
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