Seit 15 Jahren kam jedes Jahr ein Mann zur Vesperkirche, mittlerweile um die 40. Während er schlaff am Tisch saß, verdrehte er immer wieder die Augen, sackte fast mit seinem Kopf in den Teller, der vor ihm stand. Seine Mimik und Gestik verrieten: Er ist offensichtlich suchtkrank. Dennoch wurde er in der Konkordienkirche, in der seit 1998 die Vesperkirche ein Ort der Begegnung für alle Menschen ist, willkommen geheißen. „Dieses Jahr“, so erzählt Pfarrerin Ilka Sobottke, „kam er wieder, ganz anders als sonst, er sah besser aus. Zu seinem Freund sagte er über mich: Das ist die Frau, die mich als Mensch behandelt hat, als ich mich selbst nicht als einer gesehen habe.“ Das seien für die Pfarrerin die Momente, die die Vesperkirche, die jetzt am Sonntag nach einem Monat zu Ende geht, ausmachen.
Viele seien nicht nur obdach- oder arbeitslos, sondern auch einsam und hoffnungslos, erzählt Sobottke. Wenn sie dann Menschen begegnet, die sich berappelt haben – mit Unterstützung oder aus eigener Kraft, ist sie jedes Mal stolz, auf sie und auf den Einsatz etwa der Ehrenamtlichen der Vesperkirche, die die Hilfe und die Hoffnung seit 22 Jahren am Leben halten. Dieses Jahr gab es insgesamt mehr als 600 Helfer, die jeden Tag von 11 bis 14 Uhr seit dem Dreikönigstag Bedürftigen Essen serviert haben.
Rechte oft unklar
Die Ehrenamtlichen seien eine wichtige Stütze, um den Ablauf der Vesperkirche zu stemmen, „aber sie tragen unsere Botschaft auch nach außen“, sagt Ralph Hartmann, Dekan der Evangelischen Kirche Mannheim, gestern. „Kirche macht Missstände sichtbar und möchte Diskussionen anregen“ – etwa beim Thema Wohnungsnot, das in diesem Jahr im Mittelpunkt stand. Marie-Louise Uhrig vom Haus Bethanien erklärt, dass die Zahl der Beratungen während der Vesperkirche noch einmal zugenommen hat gegenüber dem Vorjahr. „Die Nachfrage ist nach wie vor hoch.“ Es gehe in den Gesprächen vor allem um schwierige Wohnverhältnisse, um Schimmel, um Räumungsklagen, um Mietschulden, aber auch um Wohnungsnot generell.
Sobottke erzählt von einer jungen Obdachlosen, die ein Kind erwartet und mit ihrem jugendlichen Freund eine Wohnung suche. Sollte die Frau nicht bald in ein Mutter-Kind-Heim ziehen, werde ihr das Baby weggenommen, schildert die Pfarrerin den Fall. „Das sind einfach extreme Schicksale, die wir hier jeden Tag miterleben.“ – „Und viele wissen oft gar nicht, welche Rechte sie eigentlich haben“, ergänzt Uhrig. „Wir haben hier öfter Fälle, in denen der Vermieter ein Mietverhältnis gekündigt hat, ohne dass er das Recht dazu hatte. Das ist nicht in Ordnung – und da helfen wir dann in unseren Beratungen vor Ort.“ Das Netzwerk funktioniere in Mannheim sehr gut, so Uhrig, Ansprechpartner würden schnell vermittelt.
Kritik aufgegriffen
Die Verantwortlichen um Pfarrerin Sobottke und Dekan Hartmann gehen auch offensiv mit Kritik um: Die Ehrenamtlichen des Vereins Futteranker, der Bedürftigen Nahrung für deren Tiere spendiert, wollte sich bei der Vesperkirche beteiligen, erhielt dann aber nach einem Einsatz eine Absage, weil das Tierfutter rieche und sich andere belästigt fühlten (wir berichteten). „Die Kommunikation ist nicht richtig gelaufen“, räumt Dekan Hartmann ein. Die Ehrenamtlichen hatten bemängelt, dass ihnen nur per E-Mail und nicht persönlich am Telefon eine Absage erteilt wurde. Hartmann sagt weiter, dass die Vesperkirche als eine Art Seismograph den Zustand und die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft abbilde und sie auf Ehrenamtliche angewiesen seien. Doch: „Die Vesperkirche ist mittlerweile eine Institution und kommt an ihre Grenzen. Es gibt keinen freien Quadratmeter mehr in der Kirche. Wir können das Angebot also nicht mehr ausweiten.“
Zahlen zur Vesperkirche
- Die Vesperkirche öffnet am Sonntag, 3. Februar, zum letzten Mal in diesem Jahr.
- Die meisten Gäste kamen am 23. Januar: 611.
- Es arbeiteten insgesamt 630 Helfer mit, 377 ehrenamtlich.
- 2018 besuchten 15750 Gäste die Vesperkirche, 2019 sind es 16000.
- In diesem Jahr beliefen sich die Kosten für die Vesperkirche auf 150 000 Euro. (jeu)
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