Bildung - Seit 2014 lernen an einer Realschule Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam – jetzt sind sie in der zehnten Klasse

Inklusionsklasse an Mannheimer Realschule: „Toleranter als andere Schüler“

Von 
Fabian Busch
Lesedauer: 

Am Anfang war es ungewohnt, erzählt Hakki. „Wir mussten uns erstmal in so eine Situation reinfinden.“ Dieser Anfang war 2014: Damals fanden sich 22 Kinder zur neuen Klasse 5c der Feudenheim-Realschule zusammen, sechs von ihnen mit einer geistigen Behinderung. Statt auf eine Sonderschule zu gehen, sollten sie hier unter Gleichaltrigen lernen. Viele Realschüler hatten damals noch kaum Berührungspunkte mit behinderten Kindern gehabt. Inzwischen ist aus der 5c die 10c geworden, im Sommer werden die Jugendlichen die Realschule verlassen, und Hakki sagt: „Ich finde, dass wir nichts Besonderes sind. Wir sind eine ganz normale Klasse.“

Ganz selbstverständlich war dieser Weg aber nicht. 2014 diskutierte Deutschland über die Inklusion, den gemeinsamen Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung. In Walldorf weigerte sich damals das Gymnasium, einen Jungen mit Down-Syndrom aufzunehmen. Eltern befürchteten, dass ein behindertes Kind stören oder den Lernfortschritt der anderen Schüler aufhalten würde. In Feudenheim dagegen beschloss man, es zu versuchen. Und das gleich mit sechs „Räubern“, wie die anderen Kinder die Mitschüler mit dem Handicap nannten.

Mal zusammen, mal getrennt

Alle sechs Räuber sind heute noch da. Die Leoparden, wie die Schüler ohne Behinderung genannt werden, sind inzwischen 20 – aber insgesamt habe es in der Klasse wenig Wechsel gegeben, sagt Thomas Haas. Der Realschullehrer hat die Gruppe in der achten Klasse übernommen. Er beobachtet, dass die Schüler toleranter, reflektierter im Umgang mit anderen Menschen sind. Dass es weniger Mobbing oder Ausgrenzung gibt als in anderen Klassen. Seine Schülerin Lara findet: „Wir haben uns sehr intensiv mit unseren Persönlichkeiten beschäftigt. Wir sind hilfsbereiter geworden.“

Beim Lernen seien die Leoparden nicht hinter Gleichaltrigen zurückgeblieben, sagt Haas: Bei Vergleichsarbeiten mit anderen Klassen seien keine Unterschiede festzustellen. Auch nichtbehinderte Schüler würden davon profitieren, wenn er den Lehrstoff in kleinteiligen Schritten erklärt.

Der Unterricht fand und findet mal gemeinsam, mal getrennt statt. In Sport, Kunst oder Hauswirtschaft sind Leoparden und Räuber meistens zusammen. Doch auch in Deutsch hat die Klasse gemeinsam das Buch „Die Welle“ gelesen – die Räuber bekamen eine Version in leichter Sprache. „In den letzten Jahren ist der gemeinsame Unterricht allerdings weniger geworden“, sagt Haas. „Für die Zehntklässler ist der Prüfungsdruck groß.“ In den Kernfächern lernen die Gruppen daher inzwischen meistens getrennt.

Immer zwei Lehrkräfte betreuen die Klasse: Die Sonderpädagogen Irina Serotek und Sebastian Dürr teilen sich eine Stelle und sind vor allem für die Räuber zuständig. Auch ein bis zwei Schulbegleiter unterstützen die behinderten Schüler. Die personelle Ausstattung sei unter dem Strich ausreichend, sagt Schulleiter Stefan Köhler. Aus seiner Sicht hat die Inklusionsklasse allen Beteiligten Vorteile gebracht. In Jahrgangsstufe 6 gibt es inzwischen eine weitere Klasse dieser Art, möglicherweise kommt im nächsten Schuljahr eine neue dazu. Für Köhler steht und fällt das Konzept aber mit der personellen Ausstattung. „Ohne die Doppelbesetzung in der Klasse würde die Idee wie ein Kartenhaus zusammenfallen“, sagt auch Thomas Haas.

Die Prüfungen für den Realschulabschluss liegen zum Teil schon hinter der Klasse. Nach der Englisch-Prüfung seien viele Leoparden sehr aufgeregt gewesen, erzählt Nico. „Da war es gut, dass man zu den Räubern gehen und mit denen reden konnte.“ Die 20 Leoparden werden nach dem Sommer in eine Ausbildung, auf ein Berufskolleg oder ein Gymnasium wechseln. Vier der sechs Räuber werden an die Justus-von-Liebig-Schule gehen, bei den zwei anderen ist noch offen, wie es weitergeht.

Sonderpädagoge Sebastian Dürr hat in Feudenheim nicht nur seine Schüler lernen sehen. Er hat auch selbst etwas über seinen Beruf gelernt. Zuvor habe er sich nicht richtig vorstellen können, dass die Jugendlichen mal im Physik- oder Geschichtsunterricht sitzen. „Die Vielfalt an Wissen, die sie hier bekommen haben, ist schon toll.“ Auch wenn die behinderten Schüler nicht wie die anderen den Realschulabschluss machen können – gelernt haben sie viel. Und Räuber-Schüler Andre hat noch etwas Besonderes zu erzählen. Bei der Prüfung zur Mittleren Reife konnte er im Fach Englisch mitmachen – und mithalten. Für seine Leistung bekam er eine 2,9.

Eltern können selbst entscheiden

  • Die 2006 verabschiedete Behindertenrechtskonvention der UNO räumt Eltern und Schülern das Recht auf inklusiven Unterricht ein. Wenn Eltern es wünschen, sollen auch behinderte Kinder das Recht haben, auf eine allgemeinbildende Schule zu gehen.
  • Dieser gemeinsame Unterricht ist allerdings keine Pflicht: Eltern können entscheiden, ob ihr Kind eine inklusive Klasse oder aber eine Förder- oder Sonderschule besuchen soll.
  • Bei geistig behinderten Schülern ist der inklusive Unterricht wie an der Feudenheim-Realschule in der Regel zieldifferenziert. Das bedeutet: Sie lernen zwar gemeinsam mit Schülern ohne Behinderung, arbeiten aber nicht auf deren Abschluss hin. 

Freier Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen