"Ich gehe nicht gern" - Ulrich Meinerzhagen sitzt ein wenig verloren in seinem halb ausgeräumten Arbeitszimmer. Der 65-Jährige verlässt das Landgericht nach fast 17 Jahren als Vorsitzender der Ersten Strafkammer. Einen Container voller Akten hat er in den vergangenen Tagen entsorgt - stapelweise Verhöre, Lebensläufe, Beschlüsse und Urteile. Mord, Totschlag, Vergewaltigung - Meinerzhagen hat sich über Jahre hinweg mit den schwersten Verbrechen beschäftigt, die in Mannheim begangen wurden. "Als Strafrichter fügt man den Menschen, die man verurteilt, immer nur Leid zu", sagt er: "Bedankt hat sich bei mir noch nie jemand." Die Bilanz, so kurz vor der Pension, klingt ein wenig deprimierend. Dabei nimmt der Jurist durchaus zufrieden Abschied vom Richterdasein, seiner Berufung, der er leidenschaftlich und auch aufopfernd gefolgt ist. "Nur 2,9 Prozent meiner Urteile sind aufgehoben worden", das hat er beim Aufräumen aller Unterlagen ausgerechnet: "Darauf bin ich stolz."
Lehrzeit in Sachsen
Jura - die Wahl des Studiums war für den in der Nähe von Gummersbach aufgewachsenen Meinerzhagen damals noch nicht die Erfüllung, mehr eine Abnabelung zum Vater, einem Mediziner. "Dass mein Platz in einer großen Strafkammer ist, habe ich eigentlich erst in Görlitz festgestellt", erzählt er. Mitte der 1990er Jahre war das. Da hatte der noch junge Jurist bereits eine prägende Station in Dresden hinter sich. Dort leitete er die Abteilung zur Verfolgung von SED-Unrecht, machte unter anderem dem früheren DDR-Ministerpräsident Hans Modrow den Prozess. "Nervenaufreibend" sei das damals gewesen: "Modrow hatte die Kommunalwahlen gefälscht. Jeder wusste das, und trotzdem war der Saal voller Sympathisanten, nicht nur unter den Zuschauern, auch in den Richterreihen." Neun Monate auf Bewährung lautete das Urteil - "definitiv viel zu mild", findet Meinerzhagen: "So habe ich meine Erfahrung über die justizielle Wirklichkeit in der DDR gesammelt."
Geprägt von diesen Eindrücken kehrte er zunächst nach Baden-Württemberg zurück, wo er studiert hatte. Am Oberlandesgericht musste er sich allerdings wieder einfügen, Verantwortung abgeben, "das hat nicht gut funktioniert". Durch den Reiz, im Osten schnell die Leitung einer großen Strafkammer übernehmen zu können, gab Meinerzhagen seine Anstellung in Baden-Württemberg auf, stellte sich auf ein Leben in Görlitz ein, zog um - und erlebte zweieinhalb Jahre später sein persönliches Desaster. Er musste einen Kasachen, der einen deutschen Zöllner getötet hatte, freilassen, weil der weder schuldfähig noch psychisch krank war. Aus juristischer Sicht eine seltene, aber einwandfreie Entscheidung, die auch bestätigt wurde. "Aber die Entrüstung darüber in der Öffentlichkeit war groß. Der damalige Justizminister von Sachsen klinkte sich ein, empörte sich über das Urteil. Schließlich sollte eine andere Verwendung für mich gefunden werden", erzählt der Richter, "obwohl das Urteil unbestritten war". Die für ihn unfassbaren Ereignisse ließen ihn reumütig in den Süden zurückkehren. Für immer.
1999 bezog er sein Dienstzimmer in Mannheim. Seitdem prägte er hier die großen Verhandlungen. Er ist bekannt für ausführliche Urteilsbegründungen, detaillierte Befragungen, seine oft mit langen Pausen gespickten Sätze, für sein "Teufel auch!", wenn ihm der Name nicht einfällt, nachdem er gerade dringlichst sucht. Und viele, die ihn im Gerichtssaal erlebten, wissen auch, dass er sein Leben zum Beruf gemacht hat. Meinerzhagen hat keine Familie, 2016 nahm er keinen Tag Urlaub, seine Arbeit verlangte ihm seit Jahren, so berichtet er, eine Sechs-Tage-Woche ab. "Der Personalmangel unter den Richtern ist nur schwer erträglich", kritisiert er, "dem Auftrag gerecht zu werden, das ging nur durch Selbstausbeutung."
Schon in seinem zweiten Jahr in Mannheim musste wegen Personalmangels eine Hilfsstrafkammer gegründet werden - "ein Loch wird gestopft und ein anderes aufgerissen", stöhnt er. Die sogenannte verfahrensbeschleunigende Verständigung, bei der durch ein Geständnis die Einigung der Prozessbeteiligten auf einen bestimmten Strafrahmen herbeigeführt wird, hält er schlicht für "falsch". "Ja, dadurch wird Zeit und Personal gespart, aber die Überzeugungsbildung, die einem Schuldspruch zugrunde liegt, geht verloren", ist sich der Richter sicher. Man reduziere auf diese Weise die Überprüfung auf eine Alibiverhandlung - "und nimmt damit die Anforderungen einer Rechtssprechung nicht ernst", bedauert Meinerzhagen. Er greift zu einer selbstgedrehten Zigarette. Ein Laster, das er auch im Ruhestand nicht ablegen möchte - " Entzug ist eine sinn- und fruchtlose Übung", sagt er und nimmt genüsslich einen Zug. Sechs Tage mehr Zeit hat er nun in der Woche und eine große Herausforderung vor sich: "Ich muss mich neu erfinden, Aspekte der eigenen Personen suchen, die bisher unentdeckt geblieben sind", ahnt er und lacht. Reisen? "Innerhalb von Europa vielleicht", sagt er zögerlich, "aber sowas wie Karibik oder Asien liegt mir fern." Die Selbsterfindung kann starten.
Ulrich Meinerzhagen
- Ulrich Meinerzhagen wurde am 15. November 1951 in Lindlar, Nordrhein-Westfalen, geboren. Als Kind wusste er nur, was nicht werden wollte: Mediziner. Sein Vater arbeitete als Chefarzt in einer Klinik.
- Meinerzhagen studierte Jura in Köln und in Heidelberg. Seine Stationen: Heidelberg, Tauberbischofsheim, Dresden, Görlitz, Karlsruhe. Seit 1999 war Meinerzhagen Vorsitzender der Ersten Strafkammer.
- Er wohnt auf dem Lindenhof, ist nicht verheiratet, hat keine Kinder.
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