Mannheim. Mit ihren 26 Jahren ist Flausa eigentlich schon eine „Pferde-Oma“, lacht Friedericke Naber, die Besitzerin der rotbraunen Isländer-Dame. Das Alter merkt man dem Tier aber nicht an, die „Großmutter“ scheint sich prächtig mit den Kindern der Eugen-Neter-Schule (ENS) auf der Blumenau zu verstehen.
Naber, Lehrerin der ENS, nimmt ihr Pferd seit zehn Jahren hin und wieder mit an das Förderzentrum für Kinder mit starken Entwicklungsverzögerungen. Jetzt ist es wieder mal so weit. Flausa trägt den von der Sonderpädagogin verkörperten „Sankt Martin“. Das Tier, so die Lehrerin, „kommt auch mal für eine Projektwoche“, oder Klassen besuchen es im Stall in Oberflockenbach.
Tiere können Kindern Selbstbewusstsein geben
Nach dem Martinsumzug gibt es Streicheleinheiten für Flausa. Natürlich wollen einige Kinder mal auf ihr reiten – und bekommen dazu Gelegenheit. Irgendwann hat die Isländer-Dame aber genug – und verabschiedet sich bis zum nächsten Mal.
Das Pferd reiht sich ein in ein Konzept, das an der ENS intensiv umgesetzt wird: tiergestützte Pädagogik. „Gerade bei Kindern, die unter mangelndem Selbstbewusstsein leiden, kann diese Pädagogik entscheidend helfen“, betont Rektorin Silvia Challal: „Ein Tier geht unvoreingenommen auf ein anderes Lebewesen zu, und das Kind kann einfach so sein, wie es ist, ohne für sein Verhalten oder seinen Charakter beurteilt zu werden.“
Die Nähe zu Tieren stärke soziale Kompetenzen, fördere Motorik und kognitive Fähigkeiten – also Wahrnehmen und Weiterverarbeiten äußerer Einflüsse. Außerdem „erleben Kinder durch das Streicheln des weichen Fells und das Fühlen der Wärme eines Tiers ein wohliges Gefühl von Geborgenheit“, so Challal.
Am Hühnerstall ist immer was los
Maya Schlichting kann das bestätigen. Sie ist Lehrerin an der ENS und Besitzerin von Theo. Der Mischlingsrüde, zweieinhalb Jahre alt, hat gerade seine Ausbildung zum Schulhund abgeschlossen. Insbesondere autistische Kinder – auch solche, die großen Probleme im Umgang mit anderen Menschen haben – tauen regelrecht auf. „Der Kontakt zum Tier ist ein erster Schritt und Teil einer möglichen Therapie“, berichtet die Sonderpädagogin.
„Es ist total schön zu sehen, wie die Kinder mit dem Hund in Kontakt kommen“, freut sich Schlichting. Sie sind „fürsorglich, stellen ihm Wasser und Futter hin“. Theo wiederum ist „unvoreingenommen und friedlich, egal, wie die Kinder auf ihn zugehen – oder auch nicht“. An der ENS im Einsatz ist er seit dem Frühjahr, maximal einmal pro Woche für zwei Stunden. Denn der Umgang mit den Kindern einer zweiten Klasse, so Schlichtung, „ist Arbeit und anspruchsvoll für den Hund“.
Während Theo nur alle paar Tage vorbeischaut, sind die Hühner und der Hahn immer da. „Bei uns am Hühnerstall ist immer was los, jede Woche darf eine andere Klasse die Versorgung übernehmen“, berichtet eine Lehrerin. Dabei lernen die Schülerinnen und Schüler, sich achtsam und rücksichtsvoll zu verhalten – nur dann werden die Hühner ruhig und lassen sich streicheln. Die Kinder tragen zugleich Verantwortung für die ihnen anvertrauten Tiere, in den Augen von Silvia Challal eine wichtige Kompetenz.
Der Kontakt wird immer intensiver
Dabei ist die Rektorin immer wieder erstaunt darüber, wie hoch die Sensibilität vieler Kinder ist. Sie erzählt von einem Schüler, derdie Hühner eine ganze Weile beim Picken beobachtet habe, um dann über ein Tier zu sagen: „Frau Challal, das guckt heute so traurig.“ Es habe sie „sehr berührt, wie genau er das angeschaut hat“.
Zum Hühnerdienst gehört übrigens auch, die Eier aus dem Nest zu holen. Später werden sie zu Pfannkuchen oder Waffeln verarbeitet. Solche Zusammenhänge zu erkennen – das sei für die Kinder „eine absolut wertvolle und seltene Erfahrung“, sagt Challal. Durch den Medienkonsum seien sie der Natur „oft ganz schön entfremdet“, hier könne Schule gegensteuern. Zumal die ENS mitten in der Natur liegt, die Kinder viel im Wald unterwegs sein können und jede Klasse ihr eigenes kleines Gärtchen vor dem Zimmer pflegt.
Bis der Kontakt zu Tieren enger wird, kann es schon mal dauern. Da stehe ein Kind zunächst am Rande des Hühnerstalls, ohne sich hineinzutrauen. Aber Fortschritte ließen meist nicht lange auf sich warten.
Natürlich können die Schülerinnen und Schüler die Hühner nur versorgen, wenn sie da sind. Deshalb ist Silvia Challal glücklich, mit Roland Gusdorf und seiner Lebensgefährtin Erna Scharkus engagierte Unterstützer gefunden zu haben. Die beiden sind Nachbarn, haben mehrere Katzen, einen Hund, Wellensittiche – und kümmern sich abends, an Wochenenden und in den Ferien. „Wir schauen, ob es den Tieren gut geht“, berichtet Gusdorf dem „Mannheimer Morgen“. Füttern, Stall reinigen, zum Tierarzt gehen – „die beiden sind für uns Gold wert“, freut sich die Rektorin.
Eugen-Neter-Schule
- Die Eugen-Neter-Schule richtet sich an Schüler, die wegen starker Entwicklungsverzögerungen den Bildungsgängen allgemeiner Schulen nicht folgen können und individuelle Hilfen benötigen.
- Derzeit besuchen 288 Schüler das Stammhaus auf der Blumenau. Es liegt mitten im Wald. Zum ausgedehnten Gelände gehört ein Hühnerstall.
- Neben dem Stammhaus im Norden der Stadt gibt es 20 Außenstandorte.
Reittherapie als Erfolgsangebot
Ein fester Bestandteil der tiergestützten Pädagogik an der ENS ist seit 18 Jahren die Reittherapie. Alle Grundstufenklassen besuchen dazu im Wechsel jeweils ein halbes Jahr lang einmal pro Woche das Anwesen von Uta Palm im benachbarten Lampertheim. Die Erfolge, so Palm, seien deutlich sichtbar. Autisten, die zunächst keinerlei Mimik gezeigt hätten, „strahlen. Hyperaktive Kinder werden auf dem Pferd ganz ruhig“. Manche brauchten ein paar Wochen, bis sie sich auf das Tier trauten, „danach wollen sie gar nicht mehr runter“.
Dabei geht es nicht nur ums Reiten, sondern auch um die Pflege der Tiere, ums Striegeln, Ausmisten und – wie bei den Hühnern – um die Übernahme von Verantwortung. Auch in Lampertheim gibt es daneben Hunde. „Viele Kinder haben zuerst Angst, später füttern sie selbst.“ Am schönsten für Uta Palm ist es, „wenn ich die Kinder strahlen sehe. Wenn ich die Freude sehe, die sie empfinden.“
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