Das Coronavirus kam Ende April - und es überrollte das Dorf. Die unsichtbare Gefahr findet ihren Weg, auch in die abgelegenen Regionen dieser Welt. Davon weiß Daniel Richter viel zu erzählen. Der Mannheimer lebt seit 2014 in Südamerika. Zunächst wechselte er seinen Aufenthaltsort wegen Visa-Problemen regelmäßig zwischen Perus Hauptstadt Lima und Salasaka in Ecuador. Seit Anfang 2017 lebt er nun dauerhaft in dem indigenen Bergdorf in den Anden. Seinen Lebensunterhalt verdient er eigentlich mit Deutsch- und Englischunterricht in einer nahen Stadt. Seit März schon kann er jedoch wegen Corona nicht unterrichten.
Zum Telefonieren genügt die Internetverbindung in Salasaka nicht. Daniel Richter schickt stattdessen lange Berichte zur Lage per E-Mail oder meldet sich über einen Nachrichtendienst auf dem Smartphone.
Die offiziellen Zahlen der Johns Hopkins University zur Lage in Ecuador: mehr als 111 200 Infizierte, 6471 Tote. Die Berichte von Daniel Richter erzählen eine weit schlimmere Geschichte. Sie handeln von einem maroden Gesundheitssystem, von fehlenden Testkapazitäten, von sorglosen Dorfbewohnern - und sie handeln von Aberglauben und perfider Geldmacherei mit Unwissenheit und Angst.
Das Virus tobt fernab in der Stadt
Anfang Mai schreibt der 44-Jährige seiner Familie und seinen Freunden von den Maßnahmen, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Darunter gibt es wie in Deutschland die Maskenpflicht und Schließungen von Geschäften und Einrichtungen. Aber in Ecuador sind die Regeln teilweise weit strenger. Es gibt zeitweise Ausgangssperren oder ein Auto darf - nach einem Nummernschildsystem - nur noch einmal pro Woche auf der Straße fahren. Nur zweimal in sieben Tagen - je nach letzter Ziffer im Personalausweis - können die Menschen den Supermarkt betreten.
In seinem Dorf werden die Regeln jedoch vor allem eines: ignoriert, bedauert Richter. Es ist Anfang Mai - und die Lage noch ruhig, viele Menschen im Hochland sehen keine Notwendigkeit, besonders vorsichtig zu sein. Zu dieser Zeit wütet das Virus aus Sicht der Bewohner Salasakas vor allem in den Nachrichten. In Berichten über Guayaquil etwa, die zweitgrößte Stadt des Landes. Dort arbeiteten nur 20 von 120 Bestattungsinstituten, schreibt Richter: „Deswegen mussten viele ihre Toten tagelang bei sich zu Hause aufbewahren. Einige Verstorbene wurden - wohl auch wegen des unerträglichen Verwesungsgeruchs - sogar wie Abfall auf der Straße abgelegt.“ Richter erwähnt einen Bericht, demzufolge zwischen dem 1. März und dem 15. April in der Hafenstadt 11 000 Menschen bestattet wurden. Normal seien für diesen Zeitraum 2500 bis 3000 Beerdigungen. Einige Dörfer weisen, sagt Richter, noch weit höhere Übersterblichkeiten auf.
Junge Menschen sterben - jedoch nicht an Corona selbst
Doch das Virus bleibt nicht in den Nachrichten, nicht in den großen Städten. Ende April treten die ersten Infektionen in Salasaka auf. Und wenige Tage später beklagt das Dorf die ersten beiden Toten im Zusammenhang mit dem Coronavirus: Brüder, gerade mal 22 und 24 Jahre alt. Ihre Geschichte ist besonders tragisch, weil sie wohl nicht an den Folgen des Virus gestorben sind, sondern an mangelnder gesundheitlicher Aufklärung: „Als sie die ersten Symptome bemerkten, gerieten sie in Panik. So sehr, dass sie sämtliche im Haus befindlichen Tabletten schluckten“, berichtet Richter. Daraufhin hätten sie auch noch ein „Heilgetränk“ aus etwa 20 verschiedenen Pflanzen getrunken - und seien kurz darauf gestorben. 40 Dorfbewohner verloren in Mai, Juni und Juli ihr Leben, rund dreieinhalb mal so viele wie sonst in so einem Zeitraum. Unter den Opfern waren viele jüngere Menschen.
Aus Sicht Richters kommt vieles zusammen, das die Verbreitung des Virus befeuert hat: die schlechte medizinische Versorgung, die unvorsichtigen Dorfbewohner. Kaum jemand halte sich an Corona-Regeln oder Beschränkungen. „Die Menschen treffen sich in den Großfamilien oder zum Fußballspiel.“ Armut zwingt manche, trotz Ausgangssperre mit ihren Waren in Nachbarorte zu laufen, um sie dort zu verkaufen. „Hinzu kommt erschreckende Ahnungslosigkeit, gepaart mit einem unbegreiflichen Glauben an allerlei über Facebook verbreitete Wundermittel.“ Richter berichtet von teuren Mitteln, die es selbst in der eigentlich recht seriösen Apotheke zu kaufen gebe - und von denen keiner weiß, was sie eigentlich enthielten.
Behandlung mit Anti-Parasiten-Mittel für Rinder
Besonders bedrückend ist, womit er sich Ende Juli meldet: „Seit ein paar Tagen lassen sich viele Einheimische bei ersten kleinen Anzeichen von Husten und Schnupfen aus Angst vor einer Infektion ein Anti-Parasiten-Mittel für Rinder spritzen“, schreibt Richter. Man glaube, dadurch das Virus abtöten zu können. Es heißt, ein Arzt aus der nahen Großstadt habe damit gute Erfahrungen gemacht. Das Mittel selbst kostet rund fünf US-Dollar, und bei Anwendung am Rind verlangt ein Tierarzt nicht mehr als 10. „Für das Spritzen eines Drittels der Dosis am Menschen muss man aber 80 Dollar auf den Tisch blättern“, so Richter. Dass völlig unklar ist, was das Mittel am menschlichen Körper ausrichte, scheine viele nicht abzuschrecken. Auch jetzt, Wochen später, lassen sich Menschen das Mittel verabreichen.
Dass die Menschen verstärkt nach alternativen Heilmethoden suchen, liegt Richters Vermutung nach auch daran, dass sie keine große Hilfe vom öffentlichen Gesundheitswesen erwarten können - und viele der westlichen Medizin nicht trauten. „Man darf außerdem nicht vergessen, dass Salasaka bis zum Bau einer Straße vor 70 Jahren praktisch fernab der ,Zivilisation’ lag“, schreibt er. „Die älteren Dorfbewohner kennen im Prinzip nichts anderes als Heilbehandlungen durch Schamanen.“
Erster Supermarkt-Besuch seit Monaten
Die Lage in Salasaka hat sich seit Anfang Juli Stück für Stück verbessert. Daniel Richter verbringt noch immer viel Zeit zu Hause, nutzt sie etwa zum Schreiben. Mit seinen beiden Hündinnen geht er vor die Tür - oder wenn er dringende Einkäufe erledigen muss.
Eigentlich wollte der 44-Jährige schon Anfang des Jahres in den Regenwald ziehen und dort gemeinsam mit einer Bekannten eine Stiftung für ausgewählte indigene Völker gründen. Doch Corona durchkreuzt viele Pläne. „Wie lange ich noch in Salasaka bleibe, steht in den Sternen“, sagt Richter. Auch, wann er seine Freunde und Familie in Deutschland wiedersieht, ist noch völlig unklar. Seine Flüge - erst für April, dann für September - wurden annulliert. Immerhin gibt es seit Montag wieder eine Busverbindung in die Stadt. An diesem Donnerstag will Daniel Richter zum ersten Mal nach fünfeinhalb Monaten wieder in den Supermarkt gehen.
Daniel Richter ist 1976 auf dem Lindenhof geboren. Anfang der 1990er Jahre zog die Familie ins Niederfeld.
Abitur machte der junge Mann am Johann-Sebastian-Bach-Gymnasium in Neckarau.
Anschließend studierte er an der Universität Mannheim und schloss 2004 als Diplom-Kaufmann und Diplom-Volkswirt ab.
Richter absolvierte mehrere Auslandspraktika: bei der ecuadorianischen Zentralbank, dem Finanzministerium von Paraguay und der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit auf den Philippinen.
Bis Ende 2010 arbeitete er unter anderem als Forschungsassistent und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer und beschäftigte sich dort vor allem mit kommunalen Finanzen.
Dann entschied er sich dazu, freiwilliger Arbeit in sozialen Projekten in Lateinamerika nachzugehen.
Richter arbeitete unter anderem in Honduras mit Straßenkindern, deportierten Migranten und Kleinkindern aus einem Armenviertel. Im kolumbianischen Medellín half er in Projekten zur Gewaltprävention.
In Salasaka in Ecuador verbrachte er zunächst einen Monat, um Einblicke in den Alltag einer indigenen Gemeinschaft zu bekommen.
Seit Anfang 2017 hat er ein dauerhaftes Visum und lebt in dem Bergdorf, das rund 7000 Einwohner zählt.
Dort unterstützte er unter anderem ein Gemeindetourismusprojekt sowie ein Museum.
Auch wegen zwei Hündinnen, die er bei sich aufgenommen hat, ist Daniel Richter nun schon viel länger in Salasaka als ursprünglich geplant.
Seinen Lebensunterhalt verdiente der 44-Jährige vor Corona mit Deutsch- und Englischunterricht in der Großstadt Ambato.
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