Mannheim. Der Tipp kam aus dem Kollegenkreis. So erfuhr Wilfried Rosendahl, Generaldirektor der Reiss-Engelhorn-Museen (REM), von der riesigen Privatsammlung der Familie Lupus. „Ich war sofort fasziniert“, erzählt Rosendahl jetzt – und wie ihm wird es sicher sehr vielen Besuchern gehen, die ab Sonntag fasziniert vor den rund 100 historischen Puppenküchen und Kaufläden aus der Privatsammlung stehen werden.
Bislang in einem Keller „irgendwo in Süddeutschland“ gelagert, wie die REM mit Rücksicht auf die Leihgeber-Familie vorsichtig formulieren, sind sie jetzt sehr liebevoll arrangiert und interessant im geschichtlichen Zusammenhang mit weiteren Exponaten inszeniert. Da werden bei der Oma- und Opa-Generation viele Erinnerungen wach, doch Spaß macht die Ausstellung quer durch alle Generationen.
Es sind, so Rosendahl, „locker über 10 000 Objekte“ und damit „die Ausstellung mit den meisten Objekten, die wir je hatten“, wie er hervorhebt. Aber das liegt eben daran, dass die Puppenküchen und Kaufläden alle komplett eingerichtet sind, oft mit bis zu 200 Teilen. Bis in wunderschöne winzige Details haben Kuratorin Eva-Maria Günther sowie die REM-Restauratoren alles so drapiert, wie es einst war.
Mini-Markenartikel
Da fällt der Blick des Betrachters auf Dinge, welche die jüngere Generation heute gar nicht mehr kennt – Bettpfannen etwa. In den Puppenküchen gibt es viele winzige Exponate aller Art aus Zinn, Messing, Kupfer und Porzellan, blau-weiße Delfter Kollektionen im Kleinformat ebenso wie bemaltes Porzellan mit Goldrand, dazu zahlreiche Töpfe, Kannen, Krüge, Backformen für Guglhupf oder Kupferformen für Pudding und Sülzen, dazu Küchengeräte wie Reibeisen, Fleischwölfe, Waffeleisen, Bügeleisen, Kaffeemühlen – alles eben in Klein, das Besteck ganz besonders winzig.
„Die Puppenküchen gingen auch immer nach den Moden der Zeit“, erläutert Eva-Maria Günther. Waren sie anfangs eher dunkel und geprägt von einem Rauchfang über offenem Feuer sowie der Haltung lebendiger Tiere wie Hühner auch in der Küche, kamen später die geschlossenen Eisenherde dazu und das zunehmende Bewusstsein für Hygiene. Also wurde nun alles heller, freundlicher, aufgeräumter.
Bei den Kaufläden sind wunderbar echt wirkend nachgebildete Lebensmittel – Obst und Gemüse ebenso wie Käse und Wurst bis hin zum gerade abgehackten Schweinskopf zu entdecken, dazu unzählige verkleinerte Schachteln und Dosen vieler Marken, von denen es manche heute gar nicht mehr gibt. Maggi, Knorr und Erdal kennt man noch, 3-Glocken-Nudeln ebenso, Schwartau und Steinhäger-Flaschen, Persil und Nivea. Sunlicht-Seife etwa dagegen gibt es in der Form nicht mehr. „Es war mal der größte Seifenhersteller des Kontinents“, erinnert Rosendahl an die 1899 auf der Rheinau gegründete Seifensiederei.
Nostalgische Momente und historische Zusammenhänge
Von der gibt es auch ein Original-Seifenstück in einer Vitrine, dazu Informationen zu der Firma. „Das ist der Wert der Ausstellung“, betont Rosendahl. Denn zu den schönen nostalgischen Momenten in der vom Fördererkreis maßgeblich mitfinanzierten Ausstellung will er eben nicht nur altes Spielzeug zeigen, sondern den historischen Zusammenhang herstellen. Dabei helfen Leihgaben, etwa vom Technoseum oder dem Verein Geschichte Alt-Neckarau. Die REM-Mitarbeiter sind aber auch tief in die eigenen Bestände gegangen. „Es gibt hier Dinge, die haben seit vielen Jahrzehnten das Depot nicht verlassen“, sagt dazu Christoph Lindner, Direktor vom Museum Zeughaus.
Zu Beginn der Ausstellung präsentiert Kunsthistoriker Andreas Krock, Sammlungsleiter Gemälde, Grafiken und Skulpturen der REM, Kinderbilder, etwa Wachsbilder berühmter Mannheimer Familien aus der Biedermeierzeit. „Mannheim hat da neben München die größte Sammlung“, verrät er. Man sieht hier die Familien Reiß, etwa die späteren Stifter Carl und Anna Reiß oder den Industriellen Ernst Röchling als Zehnjährigen, sehr streng schauend. „Man merkt ihm schon so jung die Bürde an“, so Krock.
Arbeiterschicht und Bürgertum
Mit der Ausstellung will das Museum eben auch die Zeit deutlich machen, aus der das Spielzeug stammt – von 1870 bis in die 1920er Jahre, also die Epoche, als die Industrialisierung Fahrt aufnimmt, sich Arbeiterschichten ebenso bilden wie wohlhabendes Bürgertum, neue technische Errungenschaften und Erfindungen sich durchsetzen. Bis zum Ersten Weltkrieg ist Deutschland Kolonialmacht, es gibt Kolonialwarenläden und auch in der Kinder-Ausgabe Schubladen für Feigen, Datteln, Muskat und Kakao sowie andere exotische Produkte.
Zeiten und Preise
- Die Ausstellung „Kinderträume. Spielen – Lernen – Leben um 1900“ ist vom 10. September bis 26. Mai 2024 im Museum Zeughaus der Reiss-Engelhorn-Museen zu sehen.
- Vom 1. Dezember bis 26. Mai 2024 ist im Erdgeschoss im Zeughaus zudem die Ausstellung „Spielzeug-Schätze“ in Kooperation mit dem Verein für historisches technisches Spielzeug zu sehen mit historischen Modellbahnen sowie Straßenbahn- und Automodellen.
- Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr, an allen baden-württembergischen Feiertagen 11 bis 18 Uhr, nur 24., 25. und 31.12.2022 sowie 1.1. und 20.5.2024 geschlossen.
- Begleitpublikation: „Kinderträume. Spielen – Lernen – Leben um 1900“ im Verlag Nünnerich-Asmus, 144 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 28 Euro
- Eintritt: Erwachsene 13,50 Euro, Kinder/Jugendliche (6- 18 J.) 4,50 Euro, Studierende/ Azubis/FSJler 7,50 Euro, Begünstigte 11,50 Euro, Familien 26,50 Euro (alles inclusive Ausstellung „Belle Epoque“)
- Öffentliche Führungen: 1.10 / 29.10./12.11./19.11./10.12. jeweils um 14 Uhr,
Öffentliche Mittagspausenführung 22.11.2023 um 12.30 Uhr.
Die Vorratshaltung ändert sich, denn plötzlich gibt es Ölsardinen in Büchsen – natürlich auch im Kinder-Kaufladen – und Essig in der Flasche. Vorher ist Tafelessig im Laden aus einem großen Behältnis abgezapft worden. Weckgläser kommen auf und Eisschränke, gekühlt anfangs mit Eisstangen, dann per Strom. Und erste Telefone und Registrierkassen sind ebenso zu sehen, dazu Münzen und Geldscheine der jeweiligen Zeit, auch von der Inflation 1923, als ein Pfund Brot mal eben zwei Millionen Mark kostet. Es sind eben turbulente Jahre damals – und auch Jahre sozialer Gegensätze.
„Man hat den Vater nicht geduzt, es gab ganz andere Erziehungsmethoden und Geschlechterrollen“, verdeutlicht Rosendahl. Und auch dafür sind die Puppenküchen und Kaufläden ein Beispiel. „Die Kinder haben gespielt, um für das spätere Leben zu lernen“, betont er.
Klare Rollenbilder
„Gerade Mädchen wurden für ihre spätere Rolle erzogen“, sagt Eva-Maria Günther: „Herde, kleine Nähmaschinen und Töpfe spiegelten die Welt der Erwachsenen wieder, auf die sie vorbereitet werden sollten“. Mit Kaufläden hätten beide Geschlechter gespielt, dabei viel über Waren, Handel, Münzen, Maße und Gewichte gelernt – eine Waage darf in kaum einem der Mini-Läden fehlen. Aber für Jungs gab es eben zusätzlich Modelleisenbahnen, Dampfmaschinen, Zinnsoldaten und vieles mehr, was technische Begabung fördern oder den Soldatenberuf attraktiv machen sollte. Hinter dem Spielzeug hätten eben immer „pädagogische Absichten“ gesteckt.
Dabei sei die Art des Spielens „natürlich umfeldabhängig“ gewesen. Kinder auf dem Land hätten auf dem Feld mitarbeiten müssen und kaum Spielzeug gehabt. Handwerker und Kleinbürger oder Arbeiter hätten Spielzeug selbst hergestellt oder es sich erst leisten können, als mit der Industrialisierung und der seriellen Produktion die Preise sanken. Anders natürlich wohlhabende Familien. „Die konnten sich das eher leisten“, so Günther. Das ganze Jahr ist damit aber ohnehin meist nicht gespielt worden. Üblich zu jener Zeit ist, dass besonderes Spielzeug zu Weihnachten aus- und dann wieder weggepackt wird.
Neben der hochkarätigen Privatsammlung sowie den begleitenden Exponaten der REM umfasst die Ausstellung zehn Puppenküchen oder Läden, die Menschen aus Mannheim und der Region zur Verfügung stellten. Der Aufruf habe, freut sich Rosendahl, „große Resonanz“ gefunden. „Wir zeigen vor allem ein paar ungewöhnliche Exemplare, die sich so nicht in der Sammlung befinden“, sagt Günther. Dazu zählen winzige liturgische Geräte, etwa Kelche und Monstranzen, mit denen Kinder früh die Heilige Messe einüben konnten. Was es alles gibt!
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