Historie - Neuer Band der Mannheimer Geschichtsblätter zeigt bislang unveröffentlichte Bilder einer jüdischen Familie

Heile Welt vor dem Untergang

Von 
Susanne Räuchle
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Die Mannheimer Geschichtsblätter geben Einblick ins Leben der jüdischen Familie Sonnemann. © Zinke

Erich Sonnemann sitzt mit einer Freundin in einer Blumenwiese, noch hält er sein Glück in den Armen und strahlt in die Kamera. Bald wird er nichts mehr greifen können, verliert den festen Boden unter den Füßen, öffnet sich der Abgrund unter ihm und seiner jüdischen Familie. Eine Serie bislang unveröffentlichter privater Schwarz-Weiß-Aufnahmen erzählt jetzt im neusten Band der Mannheimer Geschichtsblätter von einer fast noch heilen Welt vor dem Holocaust, vom Miteinander im kleinen Kreis mit Vater und Mutter Kurt und Bertha Sonnemann, Tante Frieda, Bruder Max – alle vereint im Wohnzimmer in der Heinrich-Lanz-Straße oder bei Ausflügen.

Momente aus jenen Tagen, als Mannheim noch Heimat schien, und Erichs Vater, Lyriker, Theaterkritiker und Musikbegeisterter, am Klavier die bösen Missklänge von außen zu übertönen versuchte. Bis der NS-Terror alle Harmonie zerfetzte. In letzter Not konnten sich die alten Sonnemanns über die Ostroute in die USA retten. Ausgezehrt und niedergeschmettert, belastet mit dem schweren Gepäck der grauenvollen Erinnerungen, landeten sie nach einer qualvollen Reise quer durch Sibirien über Yokohama schließlich am 21. September 1940 in San Francisco Bay.

Lupinenstraße im Sucher

Die Bilder aus den Jahren 1937/38, aufgenommen mit einer Rolleiflex, damals eine High-End-Kamera für Profis, sprechen Bände und haben doch über 80 Jahre lang geschwiegen. Erst jetzt, 13 Jahre nach dem Tod von Hobbyfotograf Erich Sonnemann, hat Sohn Toby die Negative wiederentdeckt, sie hielten sich irgendwo in einer kleinen Pappschachtel im obersten Regal versteckt, und entwickeln nun nach der Digitalisierung im Marchivum eine ungewöhnliche emotionale, historische und auch ästhetische Aussagekraft. Toby Sonnemann, der die Schicksale all seiner Verwandten bis nach Auschwitz verfolgt und aufgezeichnet hat, schreibt zu den Bildern, berichtet sehr berührend von allem, was war und was der unerwartete Foto-Fund in ihm auslöste.

Ganz faktenbasiert und ohne moralische Wertung präsentiert Christian Könne sein Thema, leuchtet die Zwielicht-Szene zwischen Straßenstrich und Lupinenstraße wissenschaftlich aus, untersucht die Bordell-Gegebenheiten von den 1870er Jahren bis in die 1980er-Zeit. Wer dabei pikante Details aus dem Milieu erwartet, zieht aus dieser Studie keinen Lustgewinn. Es geht vielmehr um die amtlichen Rahmenbedingungen des Gewerbes im Lauf der Jahrhunderte, um die gesetzlichen und hygienischen Bestimmungen, eigentlich um die Einhausung eines Problems, das sich nie und nimmer durch strenges Totalverbot eindämmen lässt. So führten die Sittenwächter in den 1960er Jahren einen gottgefälligen, aber erfolglosen Kampf gegen die Bordellstraße. Am Ende ließen sich Kirche und Gemeinderat von der Notwendigkeit von Dirnenunterkünften überzeugen, sogar der legendäre CDU-Hardliner, Stadtrat Hermann Merkert, musste schließlich der Macht des Faktischen und dem Rat des Polizeipräsidenten nachgeben.

Straßenverkehr geregelt

Mit dem Automobil kam eine rechtliche Dynamik ins Rollen, bis zum Jahr 1910 wurde überall nach eigenen Regeln herumgefuhrwerkt, ehe sich vor 110 Jahren mit dem reichsweiten Führerschein die Situation auf den Straßen ordnete. Harald Stockert hat in einem sehr unterhaltsamen Artikel die frühen motorisierten Mannheimer im Blick – von sportbegeisterten Herrenfahrern bis zu technikaffinen Arbeitern, die als Chauffeure anheuerten. Als Erster in der Liste der Mannheimer Führerscheininhaber von 1910 steht jedenfalls der Tagelöhner August Becker in einer Reihe mit den Industriellen Röchling, Bopp & Reuther und Architekt Speer.

Ruhige Augenblicke dagegen suchte die wohlhabende Gesellschaft in ihren Gartenpavillons, Monika Ryll ist deren Baugeschichte nachgegangen. Weitere spannende Kapitel blättert Heinrich Renschler auf, der den Neckardurchschnitt in Feudenheim durchzieht oder Alfred Storch, der die Reformpädagogik Joseph Anton Sickingers im Blick hat. Am Fall der Arisierung der Lederfirma Hirsch in Weinheim zeigt Anselm Küster das perfide System der Ausplünderung und Entrechtung im Nationalsozialismus auf.

Mannheimer Geschichtsblätter

  • Die Mannheimer Geschichtsblätter werden gemeinsam vom Mannheimer Altertumsverein, den Reiss-Engelhorn-Museen, dem Marchivum sowie dem Fördererkreis der Reiss-Engelhorn-Museen herausgegeben.
  • Die Artikel zur Mannheimer Stadt- und kurpfälzischen Landesgeschichte beleuchten den aktuellen Stand der Forschung in spannenden, reich bebilderten Geschichten und richten sich an ein interessiertes Lesepublikum.
  • Mannheimer Geschichtsblätter, Band 37/2019 Verlag Regionalkultur, ISSN: 0948- 2784, ISBN: 978-3-95505-174-7, 160 Seiten, erhältlich für 19,80 Euro. 

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