Nahost

Haare abschneiden aus Protest und Trauer: Iranerinnen und Iraner aus Mannheim berichten

Drei Iranerinnen und Iraner aus Mannheim erklären, was die Massenproteste in Iran gegen das Mullah-Regime zu einer besonderen Bewegung macht

Von 
Stefanie Ball
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Kundgebung vor dem iranischen Konsulat in Istanbul. Der Tod einer jungen Frau in Teheran hat weltweit für Entsetzen gesorgt. © Onur Dogman/action press, privat

Mannheim. Während am Strand im Iran die Männer im Männerbad schwimmen und die Frauen im Frauenbad und mitten im Meer ein Vorhang hängt, damit keiner das andere Geschlecht sieht, posten die Kinder der Mullahs in den sozialen Medien Fotos von Partys auf Yachten, sie trinken Alkohol, sie ziehen an, was sie wollen, aber ganz bestimmt keinen Hijab, kein Kopftuch, sie studieren an westlichen Universitäten, fahren schnelle Autos. „Die Bilder sehen auch die Kinder und Jugendlichen im Iran und fragen sich, warum die Reichen Dinge tun, für die sie bestraft würden“, sagt Keyvan Amiri (kleines Bild Mitte).

Der 37-Jährige lebt seit einem Jahr in Deutschland. 2007 geriet er in die Fänge des iranischen Geheimdienstes. Amiri war Mitglied einer linken Studentengruppe und hatte an Demos teilgenommen. Er wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und durfte den Iran fünf Jahre lang nicht verlassen. Später studierte er in Teheran, promovieren aber wurde ihm untersagt. Als sich die Situation nicht besserte, entschied er sich, nach Deutschland zu gehen.

Keyvan Amiri. © Onur Dogman/action press, privat

Inzwischen hat Amiri an der Universität Mannheim seinen Master in Wirtschaftsinformatik gemacht, ab November hat er eine Stelle am Lehrstuhl für Künstliche Intelligenz. Die Proteste in seinem Land, die sich am Fall der im Polizeigewahrsam gestorbenen Mahsa Amini entzündet haben, verfolgt er besorgt. Seine Eltern leben noch im Iran. „Sie sind schon über 70 und gehen nicht mehr auf die Straße, aber sie bekommen das natürlich mit“, sagt Amiri. Nachts hörten sie den Gesang, der zum festen Bestandteil der Proteste geworden ist: „Tod dem Diktator“. Keyvan Amiri verwundert es nicht, dass es eines einzigen Vorfalls bedurft hat, um die Massen auf die Straßen zu bringen. Er hat in den vergangenen Jahren erlebt, wie das Regime in dem nahöstlichen Land massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat.

Reformen bleiben aus

Nachdem der verhasste Schah Mohammad Reza Pahlavi, der wie ein Despot regiert hatte, das Land nach der Revolution von 1979 verlassen musste, übernahm ein rechter Klerus die Regierung. Doch die Reformen, die die Mullahs versprachen, blieben sie schuldig. Bis heute. Tatsächlich leben im Iran viele Menschen in Armut, jeden Monat sterben Kinder an Hunger. „Schon lange gibt es Kritik an der Regierung, die Menschen sind unzufrieden.“

Bahare Beverungen. © Onur Dogman/action press, priva

Dann stirbt Mahsa Amini – wie, weiß keiner, Misshandlungen durch die Polizei gibt es im Iran immer wieder, der Tod der 22-Jährigen ist kein Einzelfall. „Aber er bringt das Fass zum Überlaufen“, sagt Bahare Beverungen (kleines Bild oben). Die 43-Jährige kam mit ihrer Familie nach Deutschland, da war sie sieben Jahre alt. Ihre Mutter stamme aus einer liberalen, politisch aktiven Familie, erzählt sie. „Meine Mutter und ihre Schwestern sind 1979 für den Sturz des Schahs auf die Straße gegangen, da sie von einem demokratischen Iran geträumt haben.“

Der Iran hat schon viele Proteste gesehen, doch diese sind in vielerlei Hinsicht beispiellos. So steht nicht nur die Hauptstadt Teheran im Fokus, sondern in 100 Städten gleichzeitig gehen die Menschen auf die Straße, sie skandieren den Slogan „Frau, Leben, Freiheit“, doch es geht nicht nur um die Frauen. Es geht um alle, es ist eine pluralistische Bewegung, unter der sich viele Ideen vereinen.

„Studenten und Arbeiter, Männer und Frauen, Reiche und Arme, Junge und Alte, alle eint der Gedanke: jetzt oder nie“, sagt Beverungen. Das Regime habe über die Jahre viele Menschen verloren, selbst streng Gläubige, sie erwarteten von den Mullahs nichts mehr – außer Unterdrückung. „Die Menschen haben keine Angst, denn sie wissen, wie Mahsa Amini kann es eines Tages auch sie treffen“, sagt Bahare Beverungen.

Anahita Azizi © Onur Dogman/action press, privat

Besonders ist die Bewegung aber auch deshalb, weil sie von der Basis ausgeht, nicht von einer offiziellen Opposition. „Die Masse organisiert sich selbst, und zwar über die sozialen Medien“, sagt Keyvan Amiri. Dabei nutzten die Menschen Kunst und regionale Bräuche, um ihre Trauer und ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. „Der wichtigste ist ,Gisoboran’, Haare schneiden, um Trauer zu zeigen.“ Es sei eine sehr alte Tradition, die von Frauen bei Begräbniszeremonien durchgeführt werde, besonders wenn jemand in jungem Alter verstorben sei.

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Öffentlichkeit erzeugen

Anahita Azizi (kleines Bild unten) wurde in Teheran geboren und ist mit viereinhalb Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Sie bewundert den Mut der Menschen im Iran und verweist auf die zehn Forderungen der Hilfsorganisation Hawar, wonach die Ausweisungen iranischer Staatsbürger unter anderem ausgesetzt und die Einreise für Iraner erleichtert werden soll. Daneben hält es Azizi für wichtig, Öffentlichkeit zu erzeugen. Denn so könne das Mullah-Regime unter Druck gesetzt werden. „Zeigt Interesse, jede Kundgebung, jeder Post in den sozialen Medien hilft.“

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