Mannheim. Der Tagesordnungspunkt trägt die Nummer 12. Doch seine Bedeutung speziell für die Erinnerungskultur in dieser Stadt ist weit größer, als diese hintere Platzierung nahelegen mag. Denn an diesem Dienstag entscheidet der Gemeinderat über die Änderung von vier historisch belasteten Straßennamen im Ortsteil Rheinau-Süd. Eine breite Mehrheit scheint sicher. Damit ginge ein Prozess zu Ende, der vor fast genau drei Jahren mit einer Sonderseite im „Mannheimer Morgen“ beginnt.
„Das vergessene Kapitel der deutschen Geschichte“ - so lautet der Titel des Beitrages, mit dem Redakteur Manfred Loimeier, ausgewiesener Experte für diese Thematik, am 2. Februar 2019 auf die Zeugnisse des Kolonialismus auch in Mannheim aufmerksam macht. „Er hat die Sache ins Rollen gebracht“, lobt Gertrud Rettenmeier vom AK Kolonialgeschichte, der sich in dieser Sache seit langem ehrenamtlich engagiert.
Experten-Gutachten aus Mainz
Denn damit nimmt eine bereits seit längerem schlummernde Diskussion an Fahrt auf. Die Grünen im Gemeinderat initiieren mit ihrem erneuten Antrag einen Beschluss des Gremiums, Straßennamen auf ihre historische Belastung zu Prüfen. Ins Visier geraten die Kolonialisten Theodor Leutwein, Adolf Lüderitz und Gustav Nachtigal sowie der Hitler-Bewunderer und Antisemit Sven Hedin. Obwohl mit dem Marchivum unter Professor Ulrich Nieß mit reichlich Fachwissen versehen, beauftragt die Verwaltung, um jeden Anschein der Parteilichkeit zu vermeiden, das renommierte Leibniz-Institut der Universität Mainz mit einem Gutachten. Das Urteil der Historiker Bernhard Gißibl und Joachim Paulmann ist Anfang 2020 eindeutig: „Nach sorgfältiger Überprüfung dieser Biographien und unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Praxis in anderen deutschen Großstädten . . . empfehlen wir der Stadt Mannheim die Umbenennung dieser vier Straßen.“
Im Herbst 2020 bringt die Verwaltung eine entsprechende Vorlage auf den Weg, die im Bezirksbeirat eine knappe Mehrheit von sieben zu fünf Stimmen findet. Doch bei den Anwohnern regt sich Widerstand, artikuliert von der Siedlergemeinschaft Rheinau-Süd unter ihrem Vorsitzenden Hans Held. Deren Umfrage unter den Bewohnern ergibt erwartungsgemäß eine nahezu einmütige Ablehnung der Umbenennung.
Das Thema wird erst einmal von der Tagesordnung abgesetzt, Verwaltung und Politik versprechen, nun die Bürgeranhörung nachzuholen, die zuvor gar nicht erfolgt ist.
Diese findet schließlich im Oktober 2021 statt: Wie zu erwarten, prallen dabei die Gegensätze unversöhnlich aufeinander. Die Anwohner bleiben bei ihrer Ablehnung. Doch in der Bürgervertretung bringt die inhaltliche Diskussion Bewegung: Bei der erneuten Beratung des Bezirksbeirates im November spricht kein Mitglied des Gremiums mehr gegen die Umbenennung - mit Ausnahme von Siedlerchef Held, der für die FDP im Bezirksbeirat sitzt.
Um diese Namenspaten geht es
- Theodor Leutwein: Von 1895 bis 1905 Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika, leitet er viele gewaltsame Aktionen gegen die Bevölkerung und wirkt als „herausragender Repräsentant des kolonialen Unrechtssystems“, so Historiker der Uni Mainz.
- Adolf Lüderitz: Mit betrügerischen Mitteln jagt der Kaufmann (1834-86) Einheimischen ihr Land ab, was als „Meilenschwindel“ in die Geschichte eingeht. Das Unrecht führt zu Aufständen, die später mit dem Völkermord an den Hereros (80 000 Tote) enden.
- Gustav Nachtigal: Als Reichskommissar für Deutsch-Westafrika (1884) ringt er Einheimischen durch die Drohung mit Gewalt bis hin zur Geiselnahme die Abtretung ihres Landes ab.
- Sven Hedin: Der Schwede (1865-1952) unterstützt die NS-Politik gegen Juden, spricht von „jüdischer Weltverschwörung.“ Einen Tag nach Hitlers Tod 1945 würdigt er ihn „als einen der größten Menschen, den die Weltgeschichte besessen hat. Aber sein Werk wird weiterleben“. Noch 1949, vier Jahre nach Ende des Holocaust, schwärmt er: „Hitler war ein Kerl!“
Am vergangenen Dienstag berät der Hauptausschuss des Gemeinderates nicht-öffentlich. Die Verwaltungsvorlage enthält zwei konkrete Maßnahmen: Zum einen sollen an den betreffenden vier Straßenschildern „ad hoc“ Zusatzschilder mit folgendem Text angebracht werden: „Diese Ehrung entspricht nicht mehr den heutigen Wertevorstellungen, eine Umbenennung ist vorgesehen.“ Und zum zweiten: „Die Verwaltung wird beauftragt für alle genannten öffentlichen Verkehrsflächen zur Findung von neuen Benennungsvorschlägen eine Bürgerbeteiligung mit einer stadtweiten Abstimmung durchzuführen.“
Die SPD bringt einen Zusatzantrag ein: „Neben der stadtweiten Abstimmung führt die Verwaltung in Zusammenarbeit mit der Siedlergemeinschaft eine Abstimmung in den betroffenen Wohngebieten zu den Namensvorschlägen durch.“ Außerdem fordert sie, den Gewerbetreibenden vor Ort einen Zuschuss von bis zu 10 000 Euro zu gewähren, um die Kosten der Umbenennung wenigstens teilweise zu kompensieren.
Das Meinungsbild über beide Anträge fällt positiver aus als bislang gedacht. Grüne, SPD, CDU, Mannheimer Liste und Linkspartei haben bereits im Herbst auf Anfrage des „MM“ ihre Zustimmung angekündigt. Nun stimmt auch die FDP trotz weiterhin prinzipieller Kritik zu, da es „nur noch über die Beschilderung und die Bürgerbeteiligung“ sowie die Kostenübernahme gehe, so Fraktionschefin Birgit Reinemund.
Zustimmung trotz Skepsis
Ähnliches gilt für die AfD. „Mit der Ablehnung der Rheinauer Siedler stimme ich überwiegend überein“, erklärt Fraktionschef Bernd Siegholt zwar: „Dem Antrag der SPD zur Kostenübernahme stimme ich unter Berücksichtigung der zu erwartenden Abstimmungsergebnisse zu, um die den Siedlern entstehenden Kosten zumindest teilweise zu ersetzen.“
So gilt eine breite Mehrheit als wahrscheinlich, wenn an diesem Dienstag der Gemeinderat entscheidet. Und es beginnt die Debatte über die neuen Namen, die in zwei Jahren abgeschlossen sein muss.
Mit diesem Vorgehen steht Mannheim keineswegs allein. 2018 beschließt Berlin die Umbenennung seines gesamten historischen Kolonialviertels - einschließlich Lüderitzstraße und Nachtigalplatz.
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