Mannheim. Wer mit dem Fahrrad durch den Verkehr von Istanbul und verfolgt von Straßenhunden in Georgien radelt, hat vor allem eines: Ahnung von den Herausforderungen, denen man als Radfahrer begegnet. Um an der Weltklimakonferenz teilzunehmen, fuhr Ingwar Perowanowitsch im vergangenen Jahr mehr als 5.000 Kilometer auf zwei Rädern bis nach Baku, Aserbaidschan. Vergangenen Samstag ist er jedoch nicht in Mannheim, um über seine Weltreise zu sprechen, sondern um sich mit über 30 engagierten Teilnehmenden der hier täglichen Radverkehrssituation zu stellen.
Tragischerweise braucht es keine Fahrradweltreise, um als Radfahrer in gefährliche Situationen zu geraten. Die tägliche Fahrt zur Arbeit durch die Mannheimer Innenstadt reicht, um sich der Gefahren auf einem Zweirad bewusst zu werden. Organisiert von der Klimaliste Mannheim und der Fraktion LTK führt Perowanowitsch die Radgruppe deshalb am Samstagnachmittag durch die Quadratestadt, um kritische Punkte des Radverkehrs unter die Lupe zu nehmen.
Es geht ums Fahrrad. Wir dürfen dem Auto nicht das ganze Feld überlassen.
Schon am Hauptbahnhof, dem Startpunkt der Tour, merkt man den Anwesenden an, dass ihnen die heutige Tour ein besonderes Anliegen ist: „Wenn man was verändern will, dann muss man präsent sein“, gibt sich ein Teilnehmer kämpferisch. Wer die Veranstaltung organisiere, sei ihm „herzlich egal. Es geht ums Fahrrad. Wir dürfen dem Auto nicht das ganze Feld überlassen“. Unter lautem Klingeln setzt sich die Gruppe in Bewegung.
Von Heidelberg bis Paris: Andere machen’s besser
Zugeparkte Fahrradwege, undurchsichtige Straßenführung, Pkws kreuzen im Dauerbetrieb. Schon nach dem ersten Stopp am Tattersall zeigt sich: Der Mannheimer Stadtverkehr ist in fester Hand der Autos. „Die Zufahrt Richtung Wasserturm ist für Fahrradfahrer einfach katastrophal“, empört sich eine besorgte Teilnehmerin. Nicht zu Unrecht, wie sich am nächsten Halt vor dem Theresienkrankenhaus herausstellt.
Auf dem schmalen Radweg auf der Renzstraße kollidierten vergangene Woche zwei entgegenkommende Radfahrer – mit schweren gesundheitlichen Folgen. Der Grund: eine Werbetafel versperrte beim Ausweichmanöver den Weg. „Wenigstens hatte es der Verletzte nicht weit zum Krankenhaus“, platzt es aus einer Teilnehmerin heraus. Auch wenn der Galgenhumor viele schmunzeln lässt, ist die Situation bitterernst.
„Das ist das beste Beispiel für Flächenungerechtigkeit“, erklärt Perowanowitsch. „Wir haben hier einen Zweirichtungsradweg auf der einen Seite, auf der anderen parken Autos den Weg zu – fünf Spuren für Autos dazwischen.“
Der Journalist aus Freiburg weiß, wovon er spricht. Nicht nur seine Heimatstadt, auch sein Studium in der niederländischen Fahrradhochburg Groningen hat ihn gelehrt, wie lebenswert eine Stadt sein kann, die von Fahrrädern als Hauptverkehrsmittel geprägt ist. Die Niederlande seien in dieser Hinsicht ein Vorbild, weit blicken müsse man jedoch nicht. „Auch Heidelberg und Karlsruhe machen da einiges besser“, merkt die Gruppe an.
Zwar mache der großflächig versiegelte Raum in Mannheim den Vergleich „nicht ganz fair“, eine Ausrede könne dies jedoch nicht sein. „Auch Städte wie Paris, die aus einer Pro-Auto-Mentalität kommen, haben für Fahrradfahrer viel bewegt.“ Mit dem „Plan Vélo“ hat Paris seit 2015 über 1.000 Kilometer neue Radwege geschaffen und verbessert. Zahlreiche Straßen wurden für Autos gesperrt, tausende Autoparkplätze in Fahrradstellplätze oder Grünflächen umgewandelt. Das Resultat: Laut Zählungen der Stadt hat sich der Radverkehr seit 2019 mehr als verdoppelt.
Vorrang fürs Auto in Mannheim? Teilnehmer der Radtour kritisieren das
Womit also begründet die Stadt den Vorrang der Autos? „Der Autofahrer ist es nicht gewohnt, dem Radfahrer Vorrang zu geben“, schmunzelt Patrick Bernhagen, Mitglied der Mannheimer Klimaliste, angesichts der fadenscheinigen Begründung. Priorität für Autos sei sicherlich die zeiteffizienteste, nicht jedoch die sicherste Lösung. Im Hinblick auf die konservativ und damit auf Sicherheit bedachte Zusammensetzung des Gemeinderats ist diese Argumentation für Betroffene enttäuschend.
„Leider greift die Stadt erst durch, wenn etwas passiert – reaktiv statt präventiv“, schließt Bernhagen sein Urteil. Von „Mobilität für alle“, wie es im Wahlprogramm von Oberbürgermeister Christian Specht heißt, ist auch auf der anderen Neckarseite wenig zu erkennen. Während sich die Radgruppe an parkenden Autos auf der Langen Rötterstraße vorbeischlängelt, rast ein Golf mit 50 Sachen an der Gruppe vorbei. „Guck dir mal den Idioten an, den interessiert das gar nicht“, moniert ein genervter Teilnehmer.
Auch wenn es der Fahrer des Golfs wohl übersehen hat, ist positiv anzumerken: die Lange Rötterstraße, auf der sich Fahrrad- und Autofahrer die Fahrbahn teilen, ist 20er-Zone. „Ein einfacher Hebel“, findet Perowanowitsch, mit dem man jede Fahrradstraße sicherer machen könne.
Sicherer Radverkehr in Mannheim: Die Lösung muss nicht teuer sein
Das letzte Schmankerl des Tages: das Nadelöhr der B44 nach Ludwigshafen. Kurz bevor es über die Kurt-Schumacher-Brücke geht, biegt die Gruppe in die H-Quadrate ab. Was auf dem Papier als Fahrradstraße markiert ist, entpuppt sich als Spießrutenlauf durch die Innenstadt. Mit Warnwesten bewaffnet bahnen sich die Radler ihren Weg auf der Zielgeraden vorbei an Autofahrern, selbst auf der verzweifelten Suche nach Parkplätzen, bis zum Marktplatz.
Das chaotische Ende bringt Perowanowitsch zu einem ernüchternden Fazit: „3 von 10. Die Grundsubstanz ist da, aber es gibt viele Konfliktstellen.“ Mit seiner Einschätzung trifft er den Nagel auf den Kopf. Vom Label „Fahrradstadt“, mit dem sich Mannheim brüstet, ist die Stadt so weit entfernt wie der Waldhof vom Bundesligaaufstieg. „Das ist Etikettenschwindel“, deckt der Fahrradexperte auf.
Bei all der Kritik erkennen die Beteiligten an: das Budget der Stadt ist klamm. Aber um schnell Abhilfe zu schaffen, braucht es oft keine teuren Lösungen. Farbliche Straßenmarkierungen, ein fahrradfreundliches Vorfahrtsnetz, Tempolimit 20 in Fahrradstraßen. Die Lösungen liegen im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße. Man muss Anreize schaffen, um Menschen zum Fahrradfahren zu motivieren – über eine gute Fahrradinfrastruktur.
Man merkt es den Beteiligten an: Es geht nicht um ideologiebehaftete Klimaschutzpolitik. Auch wenn das sicherlich ein weiterer Grund pro Fahrrad ist, geht es um die Sicherheit der Bürger Mannheims. „Wir müssen anfangen, den Verkehr von der schwächsten Seite zu denken“, bekräftigt ein Teilnehmer. Trotz der erhitzten Gemüter findet die Veranstaltung ein versöhnliches Ende: „Es ist super, dass es Leute gibt, die sich dafür einsetzen“, spricht Perowanowitsch ein abschließendes Lob aus.
Gerade von der Erfinderstadt des Laufrads ist mehr zu erwarten. Blöd, wenn diese gleichzeitig auch die Erfinderstadt des Autos ist. Bei dem Erfindergeist, der in der Stadt pulsiert, bleibt zu hoffen, dass sich die Mannheimer auf das zurückberufen, was sie am besten können: mache, net babble. Dann wird das auch mit einer Lösung für die Fahrradinfrastruktur.
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